Diverse: Handbuch der Politik – Band 1 | |
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so verstand es sich eigentlich von selbst, dass sie sich mehr oder weniger zu Unternehmern umbildeten, und dass mithin neben die industriellen und kommerziellen Unternehmer eine der Hauptsache nach dem Junkertum entnommene Schicht der agrarischen Unternehmer trat. Überblickt man nun die sozialen Wandlungen, von denen soeben die Rede war, so wird man kaum im Zweifel sein, dass sie, wenn die Parteibildung als solche der eigentlich bezeichnende politische Vorgang des subjektiven Zeitalters ist, zu Parteibildungen führen mussten. In der Tat ist dies die Signatur der Zeit seit etwa 1860 und 70. Die früheste und glänzendste auf dieser Basis gewachsene Parteibildung ist die der Sozialdemokratie. Dagegen haben es die führenden Stände der Unternehmung, also die industriellen, kommerziellen bezw. agrarischen Unternehmer, lange Zeit zu eigener Parteibildung nicht gebracht, weil sie ihrer Natur nach die einen zur liberalen, die anderen zur konservativen Partei neigten und sich mithin als durch diese alten ideologischen Parteien mitvertreten erachten konnten. Allein dieser Zustand hat sich in den letzten zwanzig Jahren geändert. Zunächst hat sich das agrarische Unternehmertum in dem Bunde der Landwirte, dann das industrielle und kommerzielle in dem Hansabund eine Partei geschaffen, und mehr als Reflexbewegung zum Bunde der Landwirte ist dann auch für die Bauern ein entsprechender Bund ins Leben getreten. Damit sind denn tatsächlich alle sozialen Strömungen, die aus dem modernen Wirtschaftsleben hervorgegangen sind, politisch zu Worte gelangt, und die auf dieser Basis entstandenen Bildungen durchbrechen heute den Organismus der älteren ideologischen Parteien so störend, dass sich ein wirkliches Chaos durcheinanderlaufender Bestrebungen ergeben hat.
Allein, sind damit die Aussichten und Sorgen der Gegenwart erledigt? Keineswegs! Soweit man zu sehen vermag, sind es zwei Richtungen, welche in Zukunft massgebend in die Entwicklung der heutigen chaotischen Zustände eingreifen können.
Einmal breitet sich, allerdings zunächst nicht so sehr in Deutschland als in den fortgeschritteneren Ländern des modernen Demokratismus eine Bewegung aus, welche, ganz konsequent aus den Prinzipien des Subjektivismus hervorgehend, sich gegen Sekte und Partei als noch nicht den letzten konstitutionellen Ausdruck der modernen Zeit wendet. Mag man schon früher, zuerst wohl unter Napoleon I., im Plebiszit die Form gefunden haben, jede einzelne Person unmittelbar in den höchsten Fragen des Staatslebens zur Entscheidung heranzuziehen, so sind neuerdings in den Formen der Initiative und des Referendums Motive gefunden worden, durch deren Anwendung diese Heranziehung der einzelnen Personen tatsächlich stetig erfolgen kann. Partei und in gewissem Sinne auch Sekte als die untersten und elementarsten Formen persönlicher Einwirkung erscheinen dadurch wenigstens teilweise erledigt, und es liesse sich denken, dass sie von dieser Entwicklung her allmählich zwar vielleicht nicht ganz beseitigt, sicherlich aber in ihrer Bedeutung beträchtlich geschwächt würden. Sollte dieser Verlauf eintreten, so würde er sich gewiss auch in Deutschland, wenn auch vielleicht erst in späterer Zeit, nicht vermeiden lassen.
Neben dieser entfernteren Möglichkeit aber gibt es eine zweite, die sozusagen unmittelbar vor der Tür steht. Aus den wirtschaftlichen und sozialen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hat sich, seit etwa 1890 bis zur Gegenwart immer stärker anschwellend, auf den neuen Naturalismus gestützt, bekanntlich ein jetzt fast schon auf allen Gebieten des Lebens wirksamer moderner Idealismus erhoben. Dieser Idealismus dringt nun auch in das Gebiet der Politik mit konkreteren Forderungen vor. Es ist möglich, dass er, wie er jetzt schon auf dem Gebiete der Erziehungskunst um sich greift und dort ausgeprägte Programme entwickelt, so auch auf politischem Gebiete zu vielleicht mehrfacher, unter Umständen in sich gegensätzlicher Ausgestaltung von Programmen führen wird, dass dann auf Grund dieser Programme und der ihnen zugrunde liegenden Strömungen neue, wieder mehr ideologisch orientierte Parteien entstehen, und dass diese neuen Parteibildungen in dieser oder jener Form den Sieg über die älteren Bildungen davontragen werden.
Wie nun auch diese Entwicklungen in Zukunft verlaufen mögen, soviel wird aus der bisher gegebenen Darstellung ersichtlich sein, dass auch in der neuesten Periode deutscher wie auch europäischer staatlicher Entwicklung überhaupt die grossen politischen Tendenzen nur als Exponenten der unter ihnen verlaufenden kulturgeschichtlichen Entwicklung erscheinen, mag diese zunächst an ihrer Oberfläche mehr als wirtschafts- und sozialgeschichtlich oder mehr als geistesgeschichtlich gefärbt erscheinen. Und auch dem Ergebnis wird sich niemand, der die Dinge tiefer verfolgt, entziehen
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/52&oldid=- (Version vom 4.7.2021)