Reichstagswahlrecht beschnipfelt, indem man die Legislaturperiode des Reichstags, d. h. die Zeit auf welche der Reichstag jeweils früher gewählt wurde, um zwei Jahre verlängerte.
Zähneknirschend sahen wir diesem Treiben zu, uns am meisten über die Dummheit des deutschen Michels, des deutschen Wählers ärgernd, die uns wieder einen solchen Reichstag bescherte.
Da galt es noch viel Aufklärung zu schaffen, um den Unverstand der Massen zu beseitigen und uns waren durch das miserable Sozialistengesetz die Hände gebunden. Aber trotz alledem ging es wieder rüstig an die Arbeit. Das Knebelgesetz wurde in den nächsten Jahren etwas laxer gehandhabt, wodurch uns möglich wurde, da und dort eine öffentliche Versammlung mit einem unverfänglichen Thema abzuhalten. Unsere Haupttätigkeit blieb jedoch nach wie vor auf die mündliche Agitation und die Flugblattverbreitung beschränkt.
Unser Isak, der die Angstwahlen von 1887 noch in unseren Reihen mit altem Eifer mitmachte, lief im nächsten Jahre in den Hafen der Ehe ein. Von diesem Zeitpunkt an vollzog sich eine Wandlung bei ihm, die uns immer mehr und mehr entfremdete und zuletzt seinen Austritt aus der Partei herbeiführte. Er hatte sich in kurzer Zeit vom revolutionären Sozialdemokraten zum zahmsten Reformer umgemausert. Heute schwärmt er, wenn ich nicht irre, für Naumann. Unglaublich! aber wahr. Wenn dieser Verlust für uns auch schmerzlich war, unersetzlich war er nicht. Andere Streiter und Kämpfer traten an seine Stelle und die Bewegung ging rapid vorwärts, wie die Landtagswahl von 1889 bewies.
Gustav Kittler: Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis. Im Selbstverlag des Verfassers, Heilbronn 1910, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gustav_Kittler_Erinnerungen_1910.pdf/95&oldid=- (Version vom 1.8.2018)