auf gespanntem Fuße lebte. Er hatte im Gegenteil ein gutes, edles, aufopferungsfähiges Herz und war lediglich auf den Abweg geraten, nachdem er eingesehen, daß es bei der kapitalistischen Produktionsweise nahezu unmöglich ist, auf ehrliche Weise als Arbeiter sein bischen Dasein menschenwürdig zu fristen. Nachdem er bei vielen Großen gelernt, wie man mühelos erwirbt und wie man diejenigen behandelt, die der modernen Räuberei ein Ende machen wollen.
Er machte in unseren Gesprächen aus seiner Anschauung nicht das geringste Hehl und hielt sich noch für viel besser, als tausende sonst angesehener Staatsbürger, die lediglich ohne Gegenleistung auf Kosten anderer leben. Ob er recht hatte?
Auch auf meinen Fall nahm er Bezug, fragte mich, was schlechter sei, falsche Stempel anzufertigen, Unterschriften nachzuahmen, um armen Teufeln, die sich wegen einer Kleinigkeit gegen die Gesetze vergangen, zum Fortkommen zu verhelfen? Oder als Gesetzeswächter, was unsere Richter sein sollen, das Recht, die Gesetze mit Füßen zu treten, wie in meinem Fall? Ich konnte ihm leider nur sagen, daß sein Vergehen sicher das Kleinere sei.
Schon die vierte Woche saß ich in Untersuchungshaft. Kegelmaier bedurfte meiner nicht mehr. Die Untersuchung war beendet, das lag klar zu Tage, trotzdem wurde ich weiter in Haft behalten. Ich verlangte vorgeführt zu werden, aber Kegelmaier ließ mir sagen, wenn ich nichts Neues anzugeben hätte, habe es keinen Zweck. Ich drohte mit einer Beschwerde bei seinem Chef
Gustav Kittler: Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis. Im Selbstverlag des Verfassers, Heilbronn 1910, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gustav_Kittler_Erinnerungen_1910.pdf/46&oldid=- (Version vom 1.8.2018)