Der Kartellreichstag hatte alle Prophezeiungen der Sozialdemokratie wahr gemacht.
Für einen großen Teil der Wähler lautete die damalige Wahlparole: „Rache dafür, daß man uns vor drei Jahren so belogen, so beschwindelt hat.“
Die Stimmung in der Wählerschaft konnte auch der Regierung nicht verborgen bleiben und man suchte zu retten, was zu retten war.
Am 4. Februar, am 20. war Wahltag, erschien ein kaiserlicher Erlaß, in welchem den deutschen Arbeitern eine gründliche Verbesserung ihrer Lage in Aussicht gestellt wurde. Von diesem Erlaß versprach man sich, wie Bismarck, der es wissen mußte, im Juli 1890 ausplauderte, bedeutende Erfolge bei den bevorstehenden Wahlen.
Man hatte indeß die Rechnung ohne unser berechtigtes Mißtrauen gemacht und dieser Erlaß hatte auf den Ausfall der Wahl keinerlei Einfluß.
Der 20. Februar 1890 war ein Siegestag der deutschen Sozialdemokratie und wurde zum Todestag des Schandgesetzes. 1.427.298 Stimmen wurden in Deutschland für die Sozialdemokratie abgegeben und die Zahl ihrer Vertreter im Reichstag stieg von 11 auf 35, hatte sich somit mehr als verdreifacht und das alles trotz Sozialistengesetz.
Mit Begeisterung und Jubel wurde dieser Wahlausfall von den klassenbewußten, kämpfenden Arbeitern aufgenommen. Es war eine Entschädigung für die nahezu zwölfjährige Drangsalierung durch das Schandgesetz, es war aber auch ein Beweis dafür, daß die Idee des Sozialismus mit Ausnahmegesetzen und Gewaltmaßregeln nicht auszurotten ist. Die Partei, die durch das Ausnahmegesetz vernichtet werden sollte, war unter diesem
Gustav Kittler: Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis. Im Selbstverlag des Verfassers, Heilbronn 1910, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gustav_Kittler_Erinnerungen_1910.pdf/100&oldid=- (Version vom 1.8.2018)