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Seite:Gletscherleichen.pdf/3

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Walther Kabel: Gletscherleichen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 8, S. 212–216

beschäftigte, zu Studienzwecken nach Island begeben. Im südlichen Teile der Gletscherwüste des Vatnajökull entdeckte er einen Eisstrom, der sich über den Rand eines tiefen Abgrundes hinweggewälzt hatte und nun wie eine ungeheure weiße Traube von zwanzig Meter Länge, acht Meter Dicke und fünfzehn Meter Breite herabhing. Da dieser gewaltige, offenbar noch immer in stetiger Vorwärtsbewegung begriffene Gletscher eine den Gelehrten lebhaft interessierende Endmoräne besaß, stieg Housding, um diese zu untersuchen, an einem starken Tau angeseilt und von seinen Begleitern gehalten bis zum untersten Teile der Riesentraube hinab.

Hier bemerkte er einen nur noch von einer dünnen, durchsichtigen Eisschicht bedeckten Leichnam, den er mit Hilfe seiner Eisaxt herauszuhauen versuchte. Trotz angestrengtester mehrstündiger Arbeit wollte dies jedoch nicht gelingen. Der Gelehrte mußte schließlich unverrichteter Sache den Rückweg antreten.

Am nächsten Morgen ließ Housding, nachdem sein Eifer durch die Erzählungen seines Führers über die gelegentliche Auffindung von Jahrhunderte alten Gletscherleichen noch zugenommen hatte, in den Gletscherstrom dicht am Rande des Abgrundes Sprenglöcher bohren und diese mit Schießpulver füllen, um auf diese Weise die gewaltige Eistraube von der übrigen Eismasse abzutrennen und in den Abgrund zu stürzen, wo er dann seine Suche weit gefahrloser fortsetzen konnte. Am 3. Juli 1876 löste sich bereits nach dem fünften Sprengschuß das überhängende Gletscherende los und rutschte mit ohrbetäubendem Getöse die Felswand einige zwanzig Meter weit hinab, dabei in unzählige kleinere Stücke auseinanderberstend.

In diesen Eisstücken fest eingefroren fand man nun außer jenen sehr gut konservierten vierzehn menschlichen Körpern noch mehrere Hundekadaver sowie allerhand Hausgerät und Waffen. Sowohl durch diese als auch durch eine mitaufgefundene dänische Bibel vom Jahre 1772 konnte man feststellen, daß die Leichen fast hundert Jahre in dem Eisstrom gelegen und dessen Wanderung von den höchsten Bergregionen bis zu jenem Abgrund mitgemacht hatten.

Spätere Nachforschungen ergaben dann unzweifelhaft die

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Gletscherleichen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 8, S. 212–216. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gletscherleichen.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)