unmittelbar in das Ornament über. Ob dieser eigenartige Stil als selbständiges Erzeugnis der keltischen Bewohner Irlands zu betrachten, oder aus Beziehungen zum Orient herzuleiten ist: darüber besteht noch keine Klarheit. Doch wurde derselbe von bestimmendem Einfluß auf einen großen Teil des Abendlandes, da die von der Insel ausziehenden Glaubensboten, die Apostel der Franken (Columban), die Alemannen (Gallus) u. s. w. mit der christlichen Lehre auch die heimische Miniatur zu den bekehrten Völkern brachten. So bildeten sich Abzweigungen der irischen Kunst in England als angelsächsische, auf dem Festlande als fränkische, karolingische, schweizerische mit besondern Zügen aus, und noch viele Jahrhunderte später klingt in den Arabesken und Schnörkeln der Maler und Schreibmeister die irische Weise nach.
Als bezeichnender Unterschied zwischen den beiden Hauptgattungen der Buchverzierung im frühen Mittelalter kann festgehalten werden, daß der irische Miniator mit der Rohrfeder zeichnet und dann mit Leimfarben, ohne Absehen auf Licht und Schatten koloriert, der byzantinische aber mit dem Pinsel und Gouachefarben malt. Beide Stile und beide Arten der Technik übten ihren Einfluß auf die deutsche Miniaturmalerei, die in den Klöstern gepflegt wurde, aus; während die irische Art der nordischen Natur verwandter war, wurde die byzantinische besonders unter den spätern Kaisern aus dem sächsischen Hause eingeführt und unbeholfen nachgeahmt, bis sich im 12. Jahrhundert ein eigener germanischer Stil herausbildete. Das Streben nach Charakteristik und Individualisierung prägt sich in den energisch geführten Umrißzeichnungen aus; die Geberden sind ausdrucksvoll, wenn auch oft ungelenk oder im Widerspruch mit der Anatomie; Mehrfarbigkeit besteht nicht selten nur insofern, als das Nackte rot, alles übrige schwarz gezeichnet ist, doch kommt auch kräftige Farbengebung vor. In den zierlichen Initialen lebt die irische Tradition fort. Ausgezeichnete Werke dieser Periode sind der auch kulturgeschichtlich wichtige „Hortus deliciarum“, von der Äbtissin des Klosters Hohenburg auf dem Odilienberge im Elsaß, Herrad von Landsberg, im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts geschrieben und gemalt (bei der Beschießung Straßburgs 1870 zu Grunde gegangen), das „Leben der Maria“ von dem Mönch Werinher von Tegernsee, gleichzeitig (in der königlichen Bibliothek zu Berlin), das Breviarium der heiligen Elisabeth (im Kapitelarchiv zu Cividale), zahlreiche Evangeliarien u. a. m.
Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels Band 1. Verlag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig 1886, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_des_Dt_Buchhandels_1_04.djvu/017&oldid=- (Version vom 1.8.2018)