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Seite:Georgien. Natur, Sitten und Bewohner.pdf/129

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Im übrigen hat die Lyrik in Georgien noch manchen Pfleger und fast jede Zeitungsnummer bringt ein oder mehrere Gedichte, denn unter seinen mit einer so üppigen Einbildungskraft begabten Söhnen sind gar viele zum Dichten geneigt, aber nur wenige Auserlesene scheinen wirklich dazu berufen zu sein.

Weit weniger entwickelt als die Poesie ist die prosaische Erzählungslitteratur, die bereits im zwölften Jahrhunderte in Georgien gepflegt wurde und nun in unserer Zeit von neuem aufblühte. Ihre ersten Anfänge waren höchst naive Plaudereien, die noch ganz der orientailischen Phantasie angehörten und an unsere Ammenmärchen erinnerten.

Den wirklichen, den modernen Anforderungen entsprechenden Roman schuf erst der schon erwähnte Dichter Elias Tschawtschawadse, indem er wichtige sein Volk interessierende Lebensfragen berührte, eine künstlerische Charakterzeichnung einführte und den Stil verbesserte.

Seine Erzählungen, die zu Anfang der Sechziger Jahre erschienen, verursachten eine grössere Aufregung der Gemüter als es seine Gedichte vermochten, denn er übte an allen damals bestehenden Lebenszuständen eine scharfe Kritik und zeigte sich als entschiedener Gegner aller derer, die dem mittelalterlichen Schlendrian treu, in den Tag hineinlebten.

In der ersten Erzählung „Ist das ein Mensch?“ enthüllte Tschawtschawadse die moralische Gesunkenheit des damaligen Landjunkertums. Der Held ist ein wohlhabender Gutsbesitzer Luarsab Tatkaridse, welcher mit sich selbst zufrieden auf seinem Landgute lebt und dem ausser der Leibesnahrung und dem weichen Lager nichts weiter Sorge macht. Alles, was ausser dem Bereiche dieser täglichen Bedürfnisse liegt, existiert nicht für ihn und er ist bereit, jeden einen Thoren zu nennen, der sich mit anderen Dingen etwas zu schaffen macht. Alle Bequemlichkeiten geniesst er mit einer grossen Gewissenhaftigkeit, denn ihr

Empfohlene Zitierweise:
Arthur Leist: Georgien. Natur, Sitten und Bewohner. Verlag von Wilhelm Friedrich, Leipzig 1885, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Georgien._Natur,_Sitten_und_Bewohner.pdf/129&oldid=- (Version vom 1.8.2018)