das erstemal, da ein zärtliches Wort ihr Ohr berauschte und ein bebender Mund ihre Hand wie mit einem glühenden Eisen berührte, dachte sie weder an ihre Pflicht, noch an die Klugheit, noch an die Zukunft; sie erinnerte sich nur der verhaßten Vergangenheit, ihrer langen Leiden, ihres despotischen Herrn. Sie dachte auch nicht daran, daß Ramière ein gewissenloser Lügner sein könne. Sie sah in ihm einen Mann, wie sie ihn wünschte, wie sie ihn geträumt hatte, und Raymon hätte sie betrügen können, wenn er nicht aufrichtig gewesen wäre. Und warum hätte er es nicht sein sollen bei einer so schönen und so liebenden Frau? Welche andere hatte ihm jemals so viel Reinheit und Unschuld des Herzens entgegengebracht? Von welcher anderen durfte er eine freundlichere Zukunft erhoffen? War diese unter dem Sklavenjoch seufzende Frau, welche nur auf eine Gelegenheit wartete, um ihre Kette zu zerbrechen, nicht von Natur zum Lieben geschaffen?
Demungeachtet bemächtigte sich Indianas bei dem Gedanken an Ramière ein Gefühl des Schreckens. Sie fürchtete für den Mann, der mit ihrem argwöhnischen, rachsüchtigen Gatten einen Kampf auf Leben und Tod beginnen würde. Das schüchterne Wesen, das nicht zu lieben wagte, aus Furcht, ihren Geliebten dem Tode preiszugeben, dachte nicht an die Gefahr, sich selbst ins Verderben zu stürzen. Am folgenden Tage faßte sie den Entschluß, Herrn von Ramière zu vermeiden. An demselben Abend gab einer der ersten Bankiers von Paris einen Ball. Frau von Carvajal wollte ihre Nichte hinführen; aber in der Befürchtung, Raymon dort zu treffen, gelobte sich Indiana, nicht hinzugehen. Zum Schein nahm sie den Vorschlag an. Als aber Frau von Carvajal in voller Toilette in das Zimmer ihrer Nichte trat, um sie abzuholen, erklärte Indiana, daß sie unwohl sei und sich kaum auf den Füßen halten könne. „Ich würde Ihnen nur Verlegenheiten bereiten,“ sagte sie. „Gehen Sie ohne mich auf den Ball, gute Tante.“
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/32&oldid=- (Version vom 31.7.2018)