Achtung, die sie ihm bis dahin vielleicht noch bewahrt hatte. Übrigens handelte der Oberst nicht ohne selbstsüchtige Beweggründe: er fühlte die zunehmenden Beschwerden seines Alters, die Pflege seiner Frau wurde ihm unentbehrlich und seine Furcht vor der Einsamkeit wuchs mit jedem Tage. – Seit der erlittenen Mißhandlung hatte Indiana sich mit dem Gedanken getragen, zu entfliehen, nur war die Insel nicht groß genug, um sich den Nachforschungen zu entziehen. Schon war der Entschluß in ihr gewiß, zwischen sich und ihren Tyrannen das Meer zu legen, als Raymons Brief ankam. Da verschwand alles andere wie ein Hauch. Indiana fühlte oder glaubte zu fühlen, daß sie ihn mehr als je vorher liebe. Raymons Schilderung seiner Tage entzündete in ihrem Herzen jene Regung der Großmut, die tief begründet in ihrer Natur lag. Als sie ihn allein und unglücklich wußte, machte sie sich eine Pflicht daraus, die Vergangenheit zu vergessen. Ihre Begeisterung war so groß, daß sie für ihn noch zu wenig zu tun glaubte, wenn sie einem jähzornigen Gatten mit Gefahr ihres Lebens entfloh und die Mühsal einer viermonatlichen Reise auf sich nahm.
Jetzt kam es also nur darauf an, abzureisen. Es war sehr schwer, Delmares Mißtrauen und Ralphs Umsicht zu täuschen, doch das war nicht das Haupthindernis. Niemand konnte die Insel Bourbon verlassen, ohne daß es vorher in den öffentlichen Zeitungen bekanntgemacht wurde. So wollte es das Gesetz.
Unter den wenigen Fahrzeugen, die auf der gefährlichen Rhede von Bourbon vor Anker lagen, war das Schiff „Eugène“ im Begriff, nach Europa zu gehen. Indiana suchte lange Zeit eine Gelegenheit, unbeobachtet mit dem Kapitän zu sprechen; aber so oft sie den Wunsch äußerte, einen Gang nach dem Hafen zu machen, mußte Ralph auf ausdrückliches Verlangen ihres Gatten sie begleiten. Endlich erfuhr sie, daß der Kapitän des „Eugène“ oft eine im Innern des Landes wohnende Verwandte besuchte und abends
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/145&oldid=- (Version vom 31.7.2018)