Ihr Mitleid für die Leiden wachzurufen suchen, die allein zu tragen ich Kraft genug habe.
„Ich will mir nicht die Mühe geben, Ihren Brief zu widerlegen, das wäre zu leicht. Sie hätten nicht nötig gehabt, mir zu sagen, daß die Verachtung der Menschen der Lohn meines Fehltrittes geworden wäre; ich wußte es sehr wohl. Nur hatte ich nicht vorausgesehen, daß Sie mein Opfer zurückweisen könnten, nachdem ich es Ihnen bereits gebracht hatte. Nein, gewiß, ich hätte niemals geglaubt, daß Sie mich den Folgen eines so gefährlichen Entschlusses preisgeben und mich die bitteren Folgen allein tragen lassen würden, anstatt mir in Ihrer Liebe Schutz zu gewähren.
„Wie würde ich den Lästerzungen der Welt getrotzt haben, die mir nicht schaden konnten! Wie hätte ich, stark durch Ihre Liebe, der Verachtung der Menschen gespottet! Ein Wort von Ihnen, ein Blick, ein Kuß hätte hingereicht, mich freizusprechen, wo die Gesetze der Gesellschaft mich verurteilten. Ich war töricht. Ich hatte, wie Sie mir vorwarfen, das Leben nur in Romanen kennen gelernt, aus jenen heiteren und kindischen Dichtungen, die das Herz durch die Phantasiegebilde unmöglicher Glückseligkeit erfreuen. Aber derselbe Vorwurf trifft auch Sie, Raymon. Wie kommt es, daß Ihnen die Vernunft erst angesichts der Gefahr wiederkehrte? Ich glaubte, die Gefahr mache uns blind, steigere den Mut, ersticke die Furcht, und dennoch haben Sie im Augenblick der Krisis gezittert!
„Vielleicht glich Ihr Traum nicht dem meinigen; mein Mut lag in der Liebe. Sie haben sich eingebildet, mich zu lieben, und in der Stunde, wo ich vertrauensvoll zu Ihnen kam, erwachten Sie aus Ihrem Irrtum.
„Warum sollte ich Ihnen jetzt Vorwürfe machen? Vielleicht habe ich Sie zu sehr geliebt, vielleicht war Ihnen, dem Manne, der die Unabhängigkeit liebt, meine Zärtlichkeit lästig und ermüdend.
„Freuen Sie sich denn dieser Freiheit, die Sie auf Kosten meines ganzen Lebens wiedererkauft haben,
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/130&oldid=- (Version vom 1.8.2018)