Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 8 | |
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Wäre der Angeklagte ein wirklicher Taschendieb, dann hätte er sich nicht so auffällig benommen. Es sei doch denkbar, daß, als die Zeugin Kobelt das Portemonnaie mit Ostentation in die Tasche steckte, Langfinger dies beobachteten und diese Gelegenheit benützt haben. Daß die Zeugen Färber und Freund, die in dem Wahne waren, einen gefährlichen Taschendieb zu fangen, nicht frei von Voreingenommenheit seien, sei nicht zu bezweifeln. Der Angeklagte, ein hochangesehener, steinreicher Mann, sei 57 Jahre alt geworden und stehe bisher makellos da. Man könne mithin nicht annehmen, daß der Angeklagte plötzlich einer geringen Geldsumme wegen – und nur eine solche konnte er bei der Zeugin Kobelt vermuten – mit seiner ganzen Vergangenheit brechen und sich zum gemeinen Diebe erniedrigen werde. Er sei der Überzeugung, daß wo so viele Momente zugunsten eines Angeklagten sprechen, dagegen die Belastungsmomente auf so schwachen Füßen stehen, der Gerichtshof auf Freisprechung erkennen werde. – Nachdem der Angeklagte nochmals seine Unschuld beteuert hatte, zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. Der Gerichtshof hielt die Schuld des Angeklagten für erwiesen und verurteilte ihn zu drei Monaten Gefängnis. – Staatsanwalt Baschdorff beantragte die sofortige Verhaftung des Angeklagten. – Der Gerichtshof beschloß von der Verhaftung Abstand zu nehmen, wenn der Angeklagte noch 9000 Mark Kaution stellen wolle. – Der Angeklagte erklärte sich hierzu bereit. – Dieser gerichtliche Vorgang erregte erklärlicherweise in der ganzen Kulturwelt das größte Aufsehen. Der Angeklagte wurde nach Schluß der Verhandlung zunächst in die benachbarte Stadtvogtei, dem damaligen, am Molkenmarkt belegenen Untersuchungsgefängnis, geführt. Sehr bald erschien Direktor Mahn mit weiteren 9000 Mark. Die Gerichtskasse war aber, es war inzwischen Abend geworden, bereits geschlossen. Der „Taschendieb“ konnte mithin noch nicht freigelassen werden, sondern mußte die folgende Nacht in der Stadtvogtei,
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 8. Hermann Barsdorf, Berlin 1913, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_8_(1913).djvu/52&oldid=- (Version vom 1.5.2023)