Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 7 | |
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hat, ist nicht erwiesen worden. Die Gendarmen, die bei Boß Haussuchung gehalten, haben ein solches Hervortun des Angeklagten nicht wahrgenommen. Es ist ja wahr, in Neustettin haben die Juden zunächst die Christen und alsdann die Christen die Juden des Tempelbrandes beschuldigt, und zwar, so wurde behauptet, die Juden haben ihren Tempel angezündet, um das Verbrechen den Christen in die Schuhe zu schieben. Wer aber das Verbrechen begangen, ob Christen oder Juden, oder ob jene Feuersbrunst nicht aus Unvorsichtigkeit entstanden, ist in keiner Weise festgestellt worden. Als belastend wird gegen den Angeklagten ins Feld geführt, daß er zunächst von der Czechelowska am fraglichen Morgen mit einem Laken auf dem Rücken, in dem etwas enthalten gewesen, gesehen sein soll. Ganz abgesehen, daß die Czechelowska mit dem Briefträger Stürmer sich augenscheinlich in einer derartigen Fassung befanden, so daß Stürmer sogar erschrak, als er den ihnen begegnenden Mann erblickte, daß die Czechelowska sich den Mann mithin nur sehr oberflächlich angesehen haben wird, so hat sie auch nur an der Größe den Angeklagten als den ihr begegneten Mann erkannt. Nun ist aber, wie der Augenschein gelehrt hat, Josephsohn von derselben Figur, nur daß die Schultern des Angeklagten etwas höher sind als die des Josephsohn. Ich bin entfernt, die Schuld auf Josephsohn zu lenken, allein ein Irrtum der Czechelowska ist dabei nicht ausgeschlossen. Im übrigen stimmen die Angaben der Czechelowska mit denen des Mankowski selbst in der Zeitangabe keineswegs überein, ja letzterer bezeichnet ganz bestimmt die Mütze des Josephsohn als diejenige, die der ihm begegnende Mann getragen hat. Die königliche Staatsanwaltschaft will aus dem Umstande, daß der Angeklagte unwesentliche Dinge konsequent in Abrede stellt, und ferner aus seinem Verhalten nach dem Morde seine Schuld beweisen. Hätte der Angeklagte, gleich nachdem er verhaftet worden, einen Rechtsanwalt gehabt, dann wäre es ihm
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 7. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_7_(1912).djvu/124&oldid=- (Version vom 10.4.2023)