Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3 | |
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und willenlosen Charakter. Naumow habe in einem Zustand gehandelt, der seine Verantwortlichkeit zwar nicht ausschließe, aber sie doch stark einschränke. – Prof. Dr. Bianchi von der Universität Neapel, einer der bedeutendsten Psychiater Italiens und ehemaliger Unterrichtsminister führte aus: Naumow hat keinen Charakter und ein ganz exzentrisches Gemüt. Seine organischen Funktionen erfolgen ungleich und mit Unterbrechungen, besonders sind Herzklopfen, Sprünge in der Blutzirkulation und Blutandrang nach dem Kopf festzuhalten. Seine Liebeserlebnisse beweisen, bis zu welchem Grade seine Erregbarkeit geht. Alle aus dem psychischen Trauma hervorgehenden Folgen, darunter der Alkoholgenuß sind an Naumow festzustellen. Er hat nicht die Seele eines Verbrechers, der Gedanke zum Verbrechen ist von außen in sein Hirn eingeführt worden. Eine nicht verbrecherische Anlage braucht sich im hypnotischen Zustande gegen den Gedanken des Verbrechens nicht aufzulehnen. Die Suggestion hat eine ungeheure Macht. Es ist leicht einzusehen, welche Revolutionen im Gefühl Naumows durch die lakonischen Telegramme der Tarnowska „Teurer!“ und „Du bist mein!“ hervorgerufen wurden. Die Tarnowska bediente sich der indirekten Suggestion, die, wie die Versuche beweisen, viel wirksamer ist als die direkte. Die Hysteriker zerfallen in zwei Gruppen, in die der Sklaven, zu der Naumow gehört, und in die der Herrschenden und Erobernden, zu der die Tarnowska zählt. In dem von der Revolution heimgesuchten Rußland ist der Wert des Lebens gesunken und es sind wirkliche Selbstmord-Epidemien entstanden. Bei der Beurteilung des Verbrechens muß man den Kreis berücksichtigen, aus dem Naumow kommt. – Professor Dr. Borri, Gerichtsarzt in Florenz schloß sich vollständig den Ausführungen des Prof. Morselli, soweit sie die klinische Beurteilung des Krankheitszustandes der Tarnowska betreffen, an. Auch für ihn ist die Tarnowska erblich hysterisch belastet, und ihr Zustand hat
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/66&oldid=- (Version vom 5.1.2023)