Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3 | |
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habe? – Zeugin (mit großem Pathos): Niemals! Frau Gräfin wäre dazu nicht imstande gewesen! – Es wurden alsdann die medizinischen Sachverständigen vernommen. Professor Dr. Biardin faßte sein Gutachten über Naumow dahin zusammen: Er halte Naumow als absolut unverantwortlich für das von ihm begangene Verbrechen, weil er es als Neurastheniker unter gänzlich aufgehobener Willensfreiheit und bei stark vermindertem Bewußtsein begangen habe. – Ein bekannter Frauenarzt Professor Dr. Bossi (Genua) äußerte sich über die kriminelle Verantwortlichkeit der Tarnowska: Die Angeklagte leidet an einer schweren Krankheit der Gebärmutter, die sie sich durch zu frühe Verheiratung, im 17. Jahre, als ihre Menstruation noch nicht eingetreten war, zugezogen hat. Die Tarnowska stellt einen typischen Fall von Frauenkrankheit dar, bei dem das Strafrecht ebenso für die Frauen, wie bei der Trunksucht für die Männer einen Strafmilderungsgrund in Anrechnung bringen sollte. Die näheren Ausführungen, die der Gutachter durch Zeichnungen auf einer großen Tafel erläuterte, können aus Schicklichkeitsgründen nicht einmal angedeutet werden. – Alsdann nahm der Psychiater Prof. Morselli aus Genua das Wort, der zunächst den physischen und psychischen Krankheitszustand der Tarnowska schilderte. Ihre neurotische Veranlagung wurde durch die frühe Verheiratung, aus dem Kloster hinweg, und die unvermittelte Einführung durch ihren Ehemann in ein ausschweifendes Leben schwer verstärkt. Die örtliche Erkrankung der Gebärmutter brachte Blutvergiftungserscheinungen und Nervenerkrankungen mit sich, an denen die Angeklagte chronisch leidet. Überdies hat die Tarnowska eine Wanderniere, die sehr ungünstig ihre Gehirn- und Nerventätigkeit beeinflußt. Dazu kommt noch der zeitweise starke Gebrauch von Arzneigiften, wie Äther, Morphium, Kokain usw., ihre sehr schwere Erkrankung am Typhus und die Folgen des Bisses eines tollen Hundes. Die Tarnowska ist neuro-hysterisch von Geburt,
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/63&oldid=- (Version vom 5.1.2023)