nach Wien gereist war. Er erhielt nach Wien von Frau von Kruse viel schlechtgelaunte Briefe und schließlich ein Telegramm, das so gereizt klang, daß mir mein Bruder telegraphierte, ich möchte nach Wien kommen. Bei meiner Ankunft sagte er mir, er hätte an Frau v. Kruse geschrieben, daß es besser sei, die Verlobung zu lösen. Darauf kam eine Mitteilung von ihr, sie würde nachts ankommen. Sie erschien dann in später Nachtstunde an der Tür meines Schlafzimmers, schrie und tobte. Sie könne das Telegramm nicht geschrieben haben, sonst wäre sie wahnsinnig gewesen, sie liebe meinen Bruder viel zu sehr. Endlich brachte ich sie so weit, daß sie nach Hause fuhr, es war wohl ½2 Uhr morgens. Am anderen Morgen suchte sie mich wieder auf. Sie warf sich immer gegen die Tür, rang die Hände, fiel mir zu Füßen, immer beteuernd, sie liebe Graf Kuno so grenzenlos, sie machte auch Andeutungen, daß sie nicht leben könnte ohne meinen Bruder. Ich sagte, sie sollte doch auch an die Erziehung ihres Sohnes denken, noch sei es an der Zeit, von dem Bruder zu lassen. Sie erwiderte: „Ich liebe nur Kuno und will ihn besitzen, was ist mir der Sohn?“ Diese Szenen setzten sich fort. Am nächsten Tage war der Dienst Moltkes vorbei. Bei dem Wiedersehen hing sie an seinem Halse und schwor, daß alles Mißverständnisse seien. Sie bat und flehte mich an, ich glaubte ihr und bat meinen Bruder, sich mit ihr zu versöhnen. (Mit schluchzender Stimme:) Das ist die schwerste Schuld meines Lebens, denn mein unglücklicher Bruder mußte darunter auf das tiefste leiden. Zwei Tage darauf frühstückten wir zusammen, da war Frau v. Kruse schon wieder launisch. Sie bat mich dann, mit ihr nach Berlin zu fahren, um die Brautkleider zu kaufen. Sie sagte mir, wie peinlich es ihr sei, allein vom Hotel zu ihrer Hochzeit zu fahren und niemand zu haben. Auf meine Hinweise auf den Vater und die Mutter der Frau v. Kruse sagte sie mir: Der Vater ist mir nichts, die Mutter ist nicht präsentabel. Darauf erklärte ich mich bereit, in diesem Falle Mutterstelle zu vertreten. All meine Rührung aber verschwand,
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/300&oldid=- (Version vom 18.3.2024)