Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3 | |
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wuchs förmlich unter ihren Händen. Sie eilte von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Fest zu Fest, um eisig kühl die bewundernden Blicke aufzufangen, die ihr und nur ihr galten. Zu ihren Anbetern zählte ein junger Rittergutsbesitzer, Graf Stephan Borgewski. Er fand Gehör. Sie folgte ihm zu einem verschwiegenen Souper. Der Gatte erhielt Kunde davon, er stellte den Nebenbuhler zur Rede. Letzterer leugnete. Allein Graf Tarnowski hatte Mißtrauen. Er hatte viele erregte Szenen mit seiner schönen Frau. Unter heftigem Weinen bat er seine Frau kniefällig, dem Grafen Borgewski nicht Gehör zu schenken. Als das gräflich Tarnowskische Ehepaar im Sommer auf seine ländlichen Besitzungen übersiedelte, verbot Graf Wassili Tarnowski seiner Frau, den Grafen Borgewski einzuladen. Graf Tarnowski fuhr aber eines Tages in Geschäftsangelegenheiten nach Kiew. Da erhielt er eine Depesche, in der ihm mitgeteilt wurde, seine Frau habe dem Grafen Borgewski mit einer Pistole die Hand zerschmettert. Graf Tarnowski eilte, begleitet von einem Chirurgen, nach Hause. Er machte seiner Frau eine heftige Szene. Die Frau erzählte das dem Grafen Borgewski. Dieser lud Tarnowski zu einer Besprechung in einem separaten Zimmer im Grand Hotel zu Kiew ein. Dort erklärte Borgewski dem Tarnowski: er sei in seine Frau wahnsinnig verliebt. Plötzlich zog Graf Borgewski einen Revolver aus der Tasche und sagte: „Ihre Frau muß mir gehören, oder ich schieße Sie jetzt nieder und erschieße dann mich selbst!“ Borgewski schlug ein Pistolenduell vor, auf zwei oder drei Schritte, „denn“, sagte er, „ich will Ihre Frau und Ihre Kinder von einem solchen Gatten und Vater befreien!“ Dieser dramatischen Szene hatte auch der bereits erwähnte Hauptmann Baron Wladimir Stahl, ein intimer Freund Borgewskis, im selben Zimmer, hinter einem Vorhange versteckt, beigewohnt. Tarnowski war sehr erregt und wollte sich auf jeden Fall schlagen, aber Stahl, der schon selbst in die Tarnowska verliebt war und sie nicht dem Borgewski
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/12&oldid=- (Version vom 20.12.2022)