Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2 | |
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Zeugen): Haben Sie ein Liebesverhältnis der Klara Schultze irgend jemals begünstigt? – Zeuge: Niemals, ich weiß von nichts. – Der Angeklagte, welcher während der Vernehmung des Zeugen leichenblaß geworden war, sprudelte noch einmal seine bekannte Erzählung über den angeblichen Verlauf der Mordtat hervor, widersprach sich aber fortwährend, stockte und verlor schließlich ganz den Faden, so daß der Vorsitzende ihm wiederholt nachhelfen mußte. Der Zeuge Hinz blieb demgegenüber entschieden dabei, daß die ganze Erzählung des Angeklagten ein haarsträubendes Lügengewebe sei.
Es folgte darauf die Vernehmung des Schreibsachverständigen, Sekretärs Altrichter: Er habe zunächst die Urschriften der beiden Depeschen, die an Gönczi selbst und an den Hausverwalter Schlecht gerichtet waren, verglichen. Der Augenschein lehre, daß beide Depeschen von einer Hand herrühren. Aber auch in betreff der Rechtschreibung sei eine auffällige Übereinstimmung vorhanden. Dieselben Fehler seien in beiden Depeschen vorhanden. Das Wort „Miete“ sei in beiden Depeschen „Mite“ geschrieben, anstatt „sparen“ schreibe der Absender „Sparren“ und die Worte „Wir reisen“ zeigten sich übereinstimmend als „Wir Reisen“. Auch in dem von Gönczi an die Raffalski gerichteten Briefe trete die Eigenheit des Verfassers in Erscheinung, Hauptwörter klein und Eigenschaftswörter groß zu schreiben. Dazu kommen noch eine Anzahl Dialektfehler, kein Norddeutscher würde sagen: „Richten Sie meine Wohnung!“ Das sei eine spezifisch österreichische Ausdrucksweise. Er komme zu dem Schluß, daß die Urschriften der beiden Depeschen von der Hand des Angeklagten herrühren. Die Depeschen seien beide auf frankierte, nicht adressierte Postkarten geschrieben, woraus er den Schluß ziehe, daß der Verfasser wahrscheinlich ursprünglich beabsichtigt hatte, eine Postkarte zu schicken, daß die Absendung der Originalschrift ihm aber doch zu gefährlich war. – Vors.: Was sagen Sie dazu, Gönczi? – Gönczi: Bitt’ schön, Herr Präsident, ich hab’ nix geschrieben. – Vors.: Ihre Frau
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_2_(1911).djvu/73&oldid=- (Version vom 1.8.2018)