Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10 | |
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Es hieß weiter in den Memoiren: „Nachdem Reimann aus dem Geschäft entlassen war, habe sie ihn endgültig ab- schütteln wollen, es sei ihr aber nicht gelungen, denn als sie ihn in der Friedrichstraße traf, sei ein Rippenstoß die erste Begrüßung gewesen, und er habe verlangt, daß er sie besuchen dürfe. Trotz aller Mühe habe sie ihn nicht los- werden können. Eines Abends habe er sie mit Dr. St. in dessen Haus treten sehen, und dies habe dem Faß den Boden ausgestoßen. Reimann habe bis spät abends vor dem Hause gelauert, und als sie aus dem Hause trat, sei er sofort auf sie losgestürzt und habe sie am Arm gepackt. Plötzlich habe er ihre Handtasche ergriffen und ihr den Hausschlüssel des Dr. St. entrissen. Am nächsten Tage habe sie ihm einen fünf Seiten langen Brief geschrieben und darauf eine Antwort erhalten, in der er für sein ganzes Benehmen um Entschuldigung bat und ihr weitere Vorwürfe wegen ihres Umgangs mit Dr. St. machte. Als sie wieder zu Dr. St. kam, habe ihr dieser einen an ihn gerichteten Brief des Reimann gezeigt, der sie wie ein Keulenschlag getroffen habe. In dem Briefe stand: Dr. St. sollte nicht denken, er sei der einzige, der ihre Zuneigung habe, denn auch ihm, dem Briefschreiber, habe sie sich hingegeben. Dr. St. habe ihr gut zugeredet, sie sehr bedauert, er habe ihr seine Hilfe angeboten und gesagt, sie solle nicht den Kopf verlieren. An demselben Tage habe sie zufällig Reimann am Siegmundshof getroffen, und es hagelten wieder Vorwürfe auf sie nieder. Als sie dann nach Hause gekommen, sei sie ganz schwermütig gewesen, ihr ganzes bisheriges Leben sei kaleidoskopartig an ihr vorübergezogen, die Zukunft habe sich ihr grau in grau gezeigt, und sie habe beschlossen, aus dem Leben zu scheiden. Reimann habe sie zu einem Rendezvous am 7. März nach dem Tiergarten bestellt, wo er angeblich ihr den Hausschlüssel des Dr. St. wiedergeben wollte. Sie habe sich bei Wertheim einen Revolver und in einem Geschäft der Passage die Munition gekauft und sich
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/223&oldid=- (Version vom 16.2.2023)