Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10 | |
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Die Liebesdramen des alten Homer beruhen bekanntlich nur auf einer Sage, die jedoch der unsterbliche klassische Dichter des grauen Altertums in herrlicher Weise besungen hat. Wem geht nicht noch heute das Herz auf, wenn er sich der schönen Jugendtage erinnert, an denen er als Primaner die Gesänge Homers gelesen hat. Wie schön schildert Homer den trojanischen Krieg, der von 1193 bis 1184 vor Christo geführt wurde, weil Paris, der zweite Sohn des Königs Priamos von Troja, die schöne Helena, Gemahlin des Königs Menelaos von Sparta, entführt hatte und Priamos sich weigerte, die Helena herauszugeben. Auch die prächtige Schilderung Homers von den Sirenen, den drei reizenden Jungfrauen, die auf einem Eiland des Westmeeres zwischen der Insel der Kirke und der Szylla, auf einer blumigen Strandwiese, umgeben von bleichenden Menschengebeinen, weilten und durch ihren bezaubernden Gesang die Vorübersegelnden anlockten, um sie zu töten, ist selbstverständlich nur eine romantische Dichtung. Wenn es dem alten Homer vergönnt gewesen wäre, von den Toten aufzuerstehen und in der Nacht vom 7. zum 8. März 1913 den Berliner Tiergarten zu passieren, dann hätte er, in der Nähe der Lichtensteinbrücke, bei silberhellem Mondeslicht eine junge Dame, mit einem geladenen Revolver bewaffnet, gesehen, die unwillkürlich an die von ihm geschilderten Sirenen erinnerte. Wohl war es nicht bezaubernder Gesang, der den 19jährigen Georg Reimann zur späten Nachtstunde an die Stelle des Tiergartens führte, in deren Nähe ein Bach, leise rauschend, dahinfließt. Aber eine bezaubernd schöne
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/204&oldid=- (Version vom 14.2.2023)