Dem im Jahre 1897 begründeten und seitdem unter Leitung des Dr. Magnus Hirschfeld in Berlin bestehenden Wissenschaftlich-humanitären Komitee ist es zu danken, daß weitere wissenschaftliche Kreise sich genötigt sahen, sich mit der homosexuellen Frage zu beschäftigen, und daß auch im großen Publikum eine weniger verurteilende Auffassung über die Homosexualität Platz gegriffen hat. Man ist allmählich zu der Überzeugung gekommen, daß eine Veranlagung, die bereits im grauen Altertum nicht unbekannt war, deren Betätigung trotz aller Verfolgungen und strengen Strafen sich von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbt hat, nicht durch Strafbestimmungen und gesellschaftliche Ächtung aus der Welt zu schaffen ist. Die homosexuelle Veranlagung, welche wir bei Millionen von Menschen, und zwar beider Geschlechter und aller Gesellschaftskreise, in jedem geschlechtsreifen Alter finden, ist eine Naturanlage. Dagegen hilft weder Polizei, noch Gesetz, noch gesellschaftliche Ächtung. Ja, es hat den Anschein, daß, je weiter die Kultur fortschreitet, desto mehr die Homosexualität an Ausdehnung gewinnt. Es ist mir jedoch nicht die Aufgabe gestellt, über die Homosexualität eine wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben, sondern einiges aus dem Leben der Homosexuellen im alten Berlin, d. h. in der Hauptsache in dem Berlin vor 30 bis 50 Jahren zu schildern. Die Homosexuellen
Hugo Friedländer: Aus dem homosexuellen Leben Alt-Berlins. Max Spohr, Leipzig 1914, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Aus_dem_homosexuellen_Leben_Alt-Berlins.djvu/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)