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Seite:Fliegende Blätter 2.djvu/74

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Der Schachspieler.


Durch das Hazardspiel unglücklich zu werden, gehört zu den Alltagsfällen; aber selbst das Schachspiel hat seine Dämonen und Erinnyen, die ihr Opfer umgarnen, verfolgen, peinigen, bis die Leidenschaft des Schachspiels zur krankhaften Manie anwächst, die jeden anderen Gedanken, jede andere Willens- und Thatrichtung verschlingt und in sich begräbt.

Ich sehe ihn noch, den armen Mandler, mit dem blassen verkümmerten Gesicht, den tiefliegenden matten Augen, der gebückten Gestalt. Er war Doctor der Medicin, gescheidt in seinem Fache, tüchtiger Mathematiker, in allen modernen Sprachen wohlgeübt. Sein Unglück aber war die Schachspielwuth; er verspielte seine Praxis im Schach. Auf dem Café, das er zur Befriedigung seiner Leidenschaft besuchte, fand er sich zuletzt schon in der Morgenfrühe ein. Hier genoß er seinen Morgenkaffee, sein zweites Frühstück, sein Mittag- und sein Abendbrot. So viel warf ihm seine kleine Praxis noch ab. Zu Haus hatte er kein Licht, kein Holz; ein paar alte Sessel, ein armseliger Tisch bildeten sein ganzes Mobiliar. Glücklicher Weise lebte und starb er als Junggeselle; er hätte Frau und Kinder verhungern lassen, um seine Leidenschaft für das Schachspiel zu sättigen.

An Gelegenheit, seine wahnsinnige Neigung zu befriedigen, fehlte es ihm nicht; im schlimmsten Falle ist ihm auch der mittelmäßigste Spieler willkommen; und Mandler ist ein nobler Spieler; er selbst nimmt keinen Zug zurück, unterläßt aber nicht, sein Gegner auf Fehler und Vergeßlichkeiten aufmerksam zu machen. Oft bringt er sich durch gewagte Combinationen fast absichtlich in die schlimmste Situation; dann steigert sich seine Anstrengung; unterliegt er, so versucht er in einem zweiten Spiel dasselbe gewagte Manoeuvre; gewinnt er, dann leuchten seine Augen, seine Wangen röthen sich, und der ganze Ausdruck seiner Physiognomie scheint die Umstehenden zu fragen: „Nicht wahr! das hättet Ihr nicht erwartet? Das habe ich gut gemacht.“ Eben so beredt spiegelt sich aber auch die Verzweiflung in seinen Zügen, wenn er einmal gegen einen vorzüglichen Spieler drei oder vier Partieen verloren hat und sein Gegner sich zu einer neuen Parthie nicht engagiren lassen will. Aber bis morgen ist eine so lange Zeit; sein Ueberwinder kann bis morgen erkranken oder gar sterben; wer nennt alle die Zufälle, die zwischen heut und morgen eintreten und eine Revange unmöglich machen können?

Um so gewaltiger ist seine Freude, wenn sein Ueberwinder am folgenden Tage wirklich erscheint. Mandler wirft sich seine Unaufmerksamkeit von gestern auf´s lebhafteste vor und beschließt zu siegen oder zu sterben. Der Kampf ist auch wirklich einer auf Tod und Leben, die Figuren fallen bis auf den letzten Mann, nicht geschlagen nicht sieghaft , stehen zuletzt vielleicht nur die beiden Könige sich gegenüber, um mit dem Theaterkönig zu sprechen: „Ich bin sehr einsam auf dem Thron der Väter“ Unterliegt auch heute Doctor Mandler, so gesteht doch Jedermann: es sei eine Musterpartie gewesen, und von beiden Seiten gleich trefflich manoeuvrirt worden.

Zuweilen ruht Mandler von den Anstrengungen seiner Feldzüge aus und gesellt sich zu einem Kreise von Männern, die einer interessanten Schachpartie als Zuschauer beiwohnen. Anfangs verhält er sich passiv; sein Mienenspiel wird allgemach lebendiger; man gibt einen Fehler oder man macht den Zug nicht, den sich Mandler einbildet; er schüttelt den Kopf; er lächelt ironisch; ein halb unterdrücktes Hm! preßt sich durch seine Lippen. Im Verlauf des Spiels wird seine Mimik lebendiger; die Hm’s wiederholen sich, werden zu mißbilligenden Aeußerungen; seine Gesichtsmuskeln kommen in eine fieberhafte Bewegung, und drücken bald Aerger,[1] bald getäuschte Hoffnung, bald Zorn und Ingrimm aus; sein ganzer Körper theilt diese Unruhe; er wendet sich um; er möchte dies gräuliche Schauspiel von Ungeschicktheit gar nicht mehr ansehen; er vermag aber nicht, sich loszureißen. Jetzt hält er sich nicht mehr; er bricht los; der Eine der Spieler droht einen so bedeutenden Fehler zu geben, daß dadurch das Spiel nothwendig zu seinem Nachtheil ausschlagen muß. Mandler hustet, der Spieler wird aufmerksam, besinnt sich; Mandler zeigt seine Unruhe deutlicher; der Spieler will einen andern Zug thun. „Nein, nein!“ murmelt Mandler; der Gewarnte greift nach einem dritten Stein; Mandler schüttelt heftig den Kopf! Jener besinnt sich abermals, der Gegenpart klagt über die Langsamkeit seines Mitspielers, und dieser, jetzt in arger Verzweiflung, macht kurzen Prozeß und zieht den ersten besten Stein-, um nur einen Zug zu thun. „Aber ich bitte Sie, mein Herr!“ fährt Mandler heraus, „da, den Läufer[2] – hieher!“– Der Gegenpart, muthmaßlich schon Sieger, bedeutet Mandler, zu schweigen und das Spiel nicht zu stören. Mandler nimmt sich bei den nächsten Zügen zusammen und hält mit äußerster Anstrengung an sich. Aber der sich im Nachtheil befindende Spieler wird immer mehr in die Enge getrieben; er gibt sein Spiel bereits vollständig verloren; da bricht Mandler los, faßt die Königin bei der Krone, setzt sie auf irgend ein Feld und bietet: Schach! mit starker Stimme. Beide Spieler ergießen sich gegen ihn in Ausfälle, auf die er eine Injurienklage einleiten könnte; Mandler überhört diese Anzüglichkeiten oder erträgt sie, weil er um seinen Zweck zu erreichen die Beleidigungen einer Welt auf sich nehmen würde.

„Ich gewinne die Partie, die Sie verloren geben“ ruft Mandler abermals, glühend vor Kriegslust, indem er bei der geringen Fertigkeit des Gegners das gesammte Gebiet der Siegesmöglichleiten übersieht. Die Königin, ein Springer, ein Bauer gegen die Königin, einen Thurm, einen Läufer und vier glücklicherweise zerstreut stehende Bauern des Gegners – man sieht, es ist ein kühnes Unternehmen.

„Das sollten Sie doch wohl bleiben lassen!“ sagt dieser, durch einen so kecken Ausspruch gereizt. Man verständigt sich,

  1. Im Original: Aeger.
  2. Im Original: Laufer.
Empfohlene Zitierweise:
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 2). Braun & Schneider, München 1846, Seite 070. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_2.djvu/74&oldid=- (Version vom 20.8.2021)