Rosalia Lilienschein heißt die junge Dame, deren Manier darin besteht, sich täglich von ihren Empfindungen, ihren Erlebnissen, ihrer Lektüre in einem Tagebuche Rechenschaft abzulegen. Mitten in der muntersten Gesellschaft fällt ihr ein unsterblicher Gedanke ein, und husch, fort ist sie.
Das Pfänderspiel kommt in Stockung. Man fragt: wo ist Rosalia?
Da tritt sie wieder ein; sie hat ihren Gedanken zu Papier gebracht; sie sieht verklärt und licht aus wie ein Engel; sie fühlt sich so seltsam erleichtert, die junge gelehrte Dame; sie beachtet nicht, daß man über die Tinte scherzt, die als Spur ihrer Thätigkeit an ihrem Schreibfinger zurückgeblieben ist; ja sie lächelt stolz verächtlich, als Jemand den Vergleich wagt, daß sie die Tinte eben so wenig scheue als der Tiger das Blut, und daß man diesen an der blutigen Kralle, Fräulein Rosalia dagegen an den schwarzen Fingern erkenne.
Oft steht sie sogar mitten in der Nacht auf, um ihren eben gehabten Traum, der doch am Morgen vergessen sein könnte, auf frischer Fährte auf dem Papiere abzufangen.
Im Winter leidet sie meist an Katarrh, weil sie, um dem Unwillen ihrer Eltern und dem Spott ihrer Geschwister zu entgehen, in einem ungeheizten Zimmer, wo Niemand sie vermuthet, stundenlang an ihrem Tagebuche schreibt. Man hat sie einmal aller Schreibmaterialien beraubt, darauf ist sie krank geworden mit allen Symptomen eines Heimweh- oder Liebessiechen, und man hat ihr die Mittel zur Befriedigung ihrer närrischen Leidenschaft nicht länger vorenthalten dürfen, weil ihr Zustand gefährlich zu werden drohte.
Wann ihre Ehe, der sie entgegenreist, kinderlos bleibt, so ist sehr zu befürchten, daß sie die zahllose Zahl der deutschen Schriftstellerinnen vermehrt; schön ist sie ohnehin nicht, obgleich interessant und mit geistreichen Augen begabt. In ihrem Tagebuche hat sie freilich noch für keine Gattung der Produktion eine bestimmte Richtung offenbart, wie sich aus folgenden Excerpten kund geben wird.
„Von neuem betrete ich, Rosalia Lilienschein, die Schwelle eines neuen Jahres; da ist es Pflicht, vor- und rückwärts zu blicken, vergangene Fehler zu bereuen und für die Zukunft gute Vorsätze zu fassen. War Alles gut, was ich im vorigen Jahre that? Ich glaube nicht, denn wie es heißt: der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Es wäre fast besser, ich könnte am Schlusse des jetzigen Jahres umgekehrt zu mir sagen: das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach. Inwieferne dies besser wäre, darüber will ich mich gleich vor mir selber klar machen. Denn das schwache Fleisch ist Sünde, aber“ –
„So weit kam ich, als Mutter mich abrief, um ihr in der Küche zur Hand zu gehen. Mein Gedankengang wurde dadurch leider unterbrochen, und ich kann mich in ihn nicht mehr zurückfinden. Es ist schrecklich, daß solche prosaische Geschäfte den Flug des Genius hemmen müssen; ich bin nicht für die Küche geboren; daher auch die vielen Zwistigkeiten mit meinen Schwestern, welche so erzprosaischer Natur sind. Rosalia! Ueberhebe dich nicht, dünke dir nicht etwas Besseres zu sein als deine Schwestern, denn was können sie dafür, daß sie in ihrer ihnen angebornen Geistesbeschränktheit für die Flüge deiner Gedanken keinen Sinn haben? Rosalia! Beuge dich in Demuth vor deiner eigenen Geistesgröße, die ja nicht dein Werk, sondern ein Geschenk des Himmels ist. – Gott! schon wieder werde ich abgerufen“ – – –
„Den ganzen Vormittag habe ich nicht weiter daran denken dürfen, dir, mein liebes Tagebuch, meine tiefsten Empfindungen und reinsten Gedanken anzuvertrauen. Jetzt habe ich mich wie auf leisen Zephyrflügeln vom Kaffeeklatsch weggestohlen – doch was ist das? – Die Tinte ist so zähe, so blaß – o Himmel sie ist eingefroren! – Da muß ich wieder hinab, um ein paar Tropfen warmes Wasser zuzugießen“ – –
„Jetzt setze ich mich wieder hin in der Stille der Nacht. Kaum kann ich meine Schreiberei von heute Vor- und Nachmittag erkennen – ein unglückseliger Jahresanfang – lauter Unterbrechungen, lauter Zerstreuungen im Hause – und dazu die eingefrorene, mühsam aufzuthauende Tinte! Es ist nur ein Glück, daß ich über allen und jeden Aberglauben erhaben bin; sonst würde ich für das neueingetretene Jahr zittern.“
„Und ich zittere wirklich, aber vor Frost. Im Ofen knistert die spärliche Flamme. Ich habe – o Ironie des Schicksals – Vaters alten unbrauchbar gewordenen Stiefelknecht in die Flamme gworfen. War dies ein Verbrechen? Ich durfte diesen Stiefelknecht doch eigentlich nicht als mein Eigenthum betrachten. Ach meine prosaischen Eltern und Geschwister nöthigen mich zu solchen Eingriffen in fremdes Eigenthum und machen mich zur Lügnerin und Diebin.“
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 2). Braun & Schneider, München 1846, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_2.djvu/48&oldid=- (Version vom 20.8.2021)