„Ich will meine Seele trunken machen durch die heiligen Klänge der Musik,“ sagte sie, „und wenn der Genius kommt, so wird er mir den Namen nicht vorenthalten.“
„Weib,“ sagte der Kapellmeister, „das war ein großer Gedanke: ich beneide dich darum. Ja, wir wollen sie anstimmen die große Phantasie, jenes Werk, dessen Schöpfung mich den größten Meistern aller Zeiten gleichsetzt, oder vielmehr mich über sie erhebt, und wenn wir im heiligen Feuer emporschweben, wenn unsere Geister frei vom Stoffe nur in Gedanken sich bewegen, dann kann es nicht fehlen, daß durch unsere Ohren das himmlische Wort rieselt, mit welchem wir unser Kind benennen werden.“
Und Sebastian reichte Luitgarden ihre Cither und griff nach seiner Violine und sie begannen ein sanftes Adagio, das aber bald in ein brausendes Furioso überging.
Plötzlich warfen beide Gatten ihre Instrumente zur Seite, und mit dem Ausdrucke: „ich hab's!“ der aus beider Munde zugleich kam, stürzte Sebastian Dampf in die Arme seiner Ehegemahlin Luitgarde Dampf, geborne Wagen. Es war ein unaussprechlich erhabener Moment, als der große Componist die ihn weich umschlingenden Arme seiner Gattin auflöste und mit gen Himmel gerichteten Blicken zurücktretend die Worte sprach:
„Dank dir, o Genius, Dank deiner heiligen Eingebung, die mir das treffendste Wort gelehrt hat, mit welchem ich das Kind benennen soll. Ja so soll es heißen, herbrausen wird es einst wie ein ...“
„Lokomotiv!“ schrie Luitgarde und sank ohnmächtig auf ihr Kissen zurück.
„Ja, Lokomotiv,“ fuhr er fort, „Lokomotiv, welche unendlich geheimnißvolle Kraft liegt in diesem Worte, welch eine unergründliche Tiefe, und zugleich, wie einfach und natürlich, da ich Dampf und meine Frau Wagen heißt. Die Welt wird es ganz natürlich finden, ohne das Große davon zu begreifen: ja, wie ein Lokomotiv wird er einst dahin sausen vorwärts und unaufhaltsam vorwärts; wie ein Lokomotiv wird er Alles zermalmen, was sich ihm entgegenstemmt, was sein Vorwärtsdringen aufhalten will; wie ein Lokomotiv wird er die anderen Künstler an die Schleppkette nehmen, und ein Jeder wird glücklich sein, der ihm folgen darf.“
Und sich zur Wiege hinabbeugend, rief er: „Ja, mein Knabe, du wirst einst groß sein und glücklich, denn dein Name schon wird dir alle Wege ebnen.“
Unterdessen erwachte die Mutter aus ihrer Ohnmacht und stimmte mit ein in den Jubel ihres Gatten. Für den andern Tag wurde die feierliche Taufe festgesetzt und alle Componisten und Virtuosen der ganzen Stadt zur Taufe gebeten. Aus dem Namen des Täuflings machten die Eltern bis zum Augenblicke der Taufe ein Geheimniß; um so größer war dann die allgemeine Ueberraschung, als er genannt wurde. Allgemein bewunderte man Dampfs Muth, der sich über das alte Herkommen, einen Taufnamen aus dem Kalender zu wählen und ihn als ein Vorwort zum Familiennamen zu nehmen, hinwegzusetzen wagte, und fand den Namen höchst originell und für des Täuflings zukünftige Bestimmung bezeichnend. Sebastian Dampf und seine Ehefrau lächelten aber stillvergnügt: es war der erste Triumph, den das Kind ihnen bereitet hatte.
Wir übergehen einen Zeitraum von drei Jahren, in welchen Lokomotiv die Größe eines achtjährigen Knaben erreicht hatte. Mit dem Beginn seines vierten Lebensjahres begann Lokomotiv erst sein eigentliches Leben; denn an seinem vierten Geburtstage fing er an Clavierspielen zu lernen.
Bis jetzt hatte er seine Zeit mit Spielen mancherlei Art zugebracht, die alle auf seinen zukünftigen Beruf Bezug hatten. Sein Spielzeug bestand in lauter kleinen Instrumenten mit Tasten und Saiten, wobei Vater Dampf vorzüglich Sorgfalt auf die Ausdehnung des obern und untern Fingers seines Sohnes verwendete. Niemals durfte Strumpf oder Schuh an seine Füße, sondern weiche seidene Handschuhe dienten als Bekleidung für dieselben: niemals durfte das Kind weiter gehen, als über das Zimmer; auf der Straße wurde es getragen oder gefahren.
Als Lokomotiv sechs Jahre alt war, vermochte er bereits mit Einer Hand zwölf Tasten zu umspannen, und wenn er mit seinem untern Finger spielte (denn er lernte es mit beiden zugleich) gelang es ihm bis auf 11 Tasten mit Einem Fuße zu greifen, und sein Name war bekannt geworden in seiner Vaterstadt. Er war, wie man sagte, ein Wunderkind. Bis jetzt
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 2). Braun & Schneider, München 1846, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_2.djvu/118&oldid=- (Version vom 11.9.2022)