Lessing, Winkelmann, Mengs, Rumohr, Schorn u. s. w. eine möglichst charakteristische Handlung gewählt, ein Moment, wie Lessing sagt, in dem sich rück- und vorwärts das ganze Leben der darzustellenden Person spiegelt. Herr Melchior senior trinkt, seine Gattin schläft in starker Verdauung begriffen, der Sohn sitzt auf einer Geldkiste (?!) zwischen seines Vaters Weinkrug und seiner Mutter Fleischtopf, und wird, wenn wir nicht bald eine vierte Person auftreten lassen, inmitten dieser Schätze Hungers sterben, da er sich aus theoretischer Unentschiedenheit und praktischer Faulheit, also aus Weltschmerz nicht ermuntern kann, nach diesem oder jenem zu greifen.
Herr Melchior senior machte eigentlich in seinem Leben nur einen dummen Streich, und der bestand darin, daß er auf die Welt kam, ehe er die Garantie hatte, daß sein Geld und sein Durst stets in einem angenehmen Gleichgewichte stehen werde, alle anderen dummen Streiche waren nur die Folge dieses ersten, und der einzige kluge Streich war der, daß er starb, als das Mißverhältniß zwischen diesen beiden Streichen einen so hohen Grad erreicht hatte, daß ihm kein Weinwirth mehr borgte. Früher hatte er nämlich dadurch Geld erworben, daß er die Kiste, auf der wir in der Abbildung Melchior junior sitzen sehen, christlichen und unchristlichen Wucherern in Versatz gab. Diese Kiste, ein uraltes von einem in der Hexerei wohlerfahrnen Ahnherrn der Melchiorschen Familie gestiftetes Fideicommiß, enthielt einen nie versiegenden Schatz von Gold, Silber, Juwelen u. s. w. Sie konnte stets dem ältesten Sohne in der Familie weder durch Gewalt, noch List, selbst nicht durch Advokatenkniffe abspänstig gemacht werden, das war gut, – ein schlimmer Umstand war aber, daß keine Gewalt der Erde sie öffnen konnte, ehe und bevor nicht der jedesmalige Besitzer seine Mündigkeit durch irgend einen klugen Streich dargethan hatte. Unser Herr Melchior senior starb nun aber dahin, ehe ihm die Oeffnung der Kiste auf die gemeldete Weise gelang, und alle, welche hierauf hoffend ihm Geld vorgeschossen hatten, waren betrogen. Der zweite dumme Streich Herrn Melchiors war, daß er ein Mädchen ihres Geldes, ihrer Schönheit und ihrer Talente wegen heirathete. Denn wegen ihrer Schönheit wurde sie ihm untreu, andere verzehrten das Geld, und (wie die Weiber sich in der Ehe zu ändern pflegen!) die Talente verloren sich alle; und als die einst geistreiche Dame nicht mehr lieben konnte, legte sie sich auf’s Essen, d. h. viel Essen, sehr viel Essen. Der dritte dumme Streich Melchiors war, daß er die einheimische Weinkultur emporbringen wollte, nicht durch Schutzzölle, sondern durch vermehrten inländischen Consumo, insofern er ihn persönlich darstellen konnte. Ach wenn alle seinem Beispiele gefolgt wären, wie viele arme Winzer und reiche Weinhändler hätten sich gefreut?! Aber die Herzen sind kalt, und der Bierdurst ist zeitgemäß und populär. Melchior opferte sein Leben für seine Idee, und seine Frau starb vor Freude bei seiner Todesnachricht. Sie hinterließen beide nichts als den Ruhm ihrer Thaten in der darauf bezüglichen Urkundensammlung, eine wegen ihres Umfangs höchst merkwürdige Masse unbezahlter Rechnungen. O, wie viel goldene Regeln wollte er seinem Sohne noch geben, als ihn der Tod ereilte! „Mein laut Taufregister zu St. Moritz vielgeliebter Sohn, fing er an, kennst du den Unterschied zwischen einem ordentlichen und einem außerordentlichen Professor? „Junior gähnte mit jener natürlichen Grazie, mit welcher Fanni Elsler[WS 1] ihre Pas macht, und ein englisches Vollblutpferd seinen Schweif trägt. – „Ein ordentlicher Professor,“ sagte Senior, „weiß nichts Außerordentliches und ein außerordentlicher nichts Ordentliches. Ich wäre nun fast einmal ordentlicher Professor geworden, weil meine Ideen so alt und einfach sind, aber es kam nicht dazu, weil sie allen, namentlich den Jüngern, zu schnell einleuchteten. Siehe das Entscheidendste für das ganze Leben ist die Wahl eines Berufs und die Wahl einer Gattin. Glaube, mir, kein Geschäft nährt so gut seinen Mann, wie Essen und Trinken. Heirathe aber wen du willst und wie du willst, denn die Ehe ist ein Hasardspiel, wo man nur gewinnt, wenn man mit dem Gedanken heirathet, daß die Weiber zu unserer Verbesserung da sind. Sei dann deine Frau, wie sie sei, jeden Tag, wann sie schilt, wirst du dich freuen, daß du hier schon einen Theil des Fegefeuers bei einer guten Flasche Wein abmachen kannst, und jeder Tag an dem sie nicht schilt, wird ein Festtag für dich seyn. In meinem Hause hatte es deren freilich weniger gegeben, als auf der Insel Ischia, wo bekanntermassen 211 im Jahre seyn sollen. Uebrigens gibt es nichts comoderes als die Comodität, und nichts fideleres als die Fidelität. Der Anfang aller Weisheit ist die Langeweile – hier starb er. –
Wir bitten jetzt den günstigen Leser, über den Verlauf unserer Geschichte höchst gespannt zu seyn, denn beim Beginne derselben sitzt Melchior junior aus seiner Eltern Hause herausgeworfen, wie oben abgebildet, auf dem Hafendamme in Hamburg, aus Faulheit dem Hungertode nahe, und wenn es Abend wird, schmählicher Einkerkerung gewiß. Vorläufig ist zwar der Krug noch voll und der Topf noch voll und die Kiste voll und Melchior ist auch voll, nämlich voll Wißbegierde, was sein Vater mit dem letzten Worte Langeweile – dem einzigen, welches ihm von der ganzen Rede erinnerlich ist – habe sagen wollen. Du mußt dich nämlich für den Helden meiner Geschichte interessiren, lieber Leser, denn er hat sich nie gelangweilt, und so wie er sich langweilt, ist die Geschichte aus, und wenn du dich langweilst,
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Die Österreicherin Fanny Elßler war eine der bekanntesten Tänzerinnen des 19. Jahrhunderts.
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 1). Braun & Schneider, München 1845, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_1.djvu/182&oldid=- (Version vom 11.1.2020)