Zwei werben um ein Mägdlein schön –
Das Mägdlein spricht in Hulden:
„Vor meinem Fenster mögt Ihr steh’n
Und treulich Euch gedulden.
Dem wird zuletzt der Kranz gereicht –
Was thut man nicht aus Liebe!“
So stehen sie nun sonder Trug,
Die beiden wackern Jungen;
Der And’re hat gesungen.
Sie steh’n und harren sonder Wank,
Sie stehen tag- und mondenlang –
Was thut man nicht aus Liebe!
Sie glänzen wie von Glase,
Sie frieren ein, sie frieren steif,
Voll Eis hängt ihre Nase.
Sie sind in Schnee wie eingescharrt,
Was thut man nicht aus Liebe!
Der Frühlingssonne milde Gluth
Beginnt das Eis zu schmelzen;
In Strömen rinnt die Wasserfluth
Das Mägdlein spricht: „Nun geht nach Haus,
Ihr hieltet gut und wacker aus –
Was thut man nicht aus Liebe!“
Der Eine hört’s und läuft davon
Und sagt: „Mamsell! den Liebeslohn
Will ich mir später holen.“
Der And’re spricht: „Jetzt wird es schön,
Jetzt will ich con amore steh’n –
Er steht und steht, bis gar ein Strauch
Umwachsen seine Glieder.
Da beugt mit zartem Liebeshauch
Die Maid sich zu ihm nieder:
Er aber flüstert aus dem Grün:
„Was thut man nicht aus Liebe!“
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 1). Braun & Schneider, München 1845, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_1.djvu/147&oldid=- (Version vom 16.9.2022)