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Seite:Ficker Vom Reichsfürstenstande 030.jpg

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Vom römischen Weltreiche hat das deutsche Kaiserreich nur den Namen, nicht den Umfang und das Wesen überkommen. Nie ist es das geworden, was anschliessend an die Traditionen vom Reiche der Imperatoren, anschliessend an die Einheit der Kirche, welcher eine Einheit der weltlichen Gewalt entsprechen müsse, die Theorie des Mittelalters vielfach von ihm glaubte verlangen zu sollen. Nie fielen seine Gränzen zusammen mit denen des abendländisch-christlichen Kulturkreises, dessen weltliche Interessen zu schirmen es berufen war; noch weniger, dass in ihm der Trieb gelegen hätte, die so verschiedenen Volksthümlichkeiten des weiten Kreises ein und derselben staatlichen Regel zu unterwerfen. Wohl finden wir diese Richtung auf ein einheitliches Weltreich in der Schöpfung Karls des Grossen; aber sie war auch nur ein Versuch, dessen Misslingen die eigentümliche Gestaltung des deutschen Kaiserreiches vorbereitete; und besser unzweifelhaft, dass dieses Misslingen zeitweise einen unläugbaren Rückschritt herbeiführte, als wenn dem Gelingen eine vorzeitige Reife gefolgt wäre, ein Zustand, welcher auf die Verhältnisse der Imperatorenzeit hätte zurückleiten müssen.

Fehlte dem deutschen Reiche der Charakter des Weltreiches, so war es freilich eben so wenig ein Nationalreich; wenigstens nicht im Sinne einer Zeit, welche nur noch der einfachsten Aufgabe gewachsen scheint, das Gleichartige und Einförmige staatlich zu ordnen, welche dem Mannichfaltigen und Eigentümlichen im Staate gegenüber da, wo sie auf die Aussicht einer Assimilirung verzichten muss, am liebsten zur Ausscheidung rathen möchte, welche muthlos zurückweicht, wo es gilt, verschieden Geartetes zu genügender Einheit zu verbinden, Kräfte verschiedenen Werthes in der jeder angemessenen Richtung für die Zwecke des Staatsganzen zu verwerthen, diesen entsprechend Recht und Pflicht der Einzelnen in verschiedener Abstufung zu verteilen. Im Sinne derer, welche die durch die Einheit der Sprache gekennzeichnete Nation als das bestimmende Moment für die Abgränzung des Staates hinstellen, war das deutsche Reich freilich kein nationales. Indem es neben den deutschredenden Stämmen in kaum geringerer Anzahl Millionen von Romanen und Slaven der verschiedensten Zunge umschloss, vereinigte es in sich Glieder aller grossen Völkerfamilien des Abendlandes; und wieder finden wir selbst in dem engeren Rahmen des deutschen Königreiches alle Nationen des vielsprachigen Kaiserreiches vertreten; oft sich kreuzend, liefen die Gränzen der Sprachen nur selten zusammen mit denen des Reichs und seiner Theile. Und nicht das allein; es fehlte auch das Streben, die verschiedenen Nationen zu einer zu verschmelzen; jeder war im eigenen Kreise die freieste Bewegung gegönnt, der weiteste Spielraum gelassen, Volkstümliches zur vollsten Entfaltung zu bringen; in keinem Kreise des Staatslebens wurde es dem Einzelnen fühlbar, dass seine Sprache, sein Recht nicht die des Reiches seien; beide geleiteten ihn bis zum Richterstuhle des

Empfohlene Zitierweise:
Julius von Ficker: Vom Reichsfürstenstande. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Buchhandlung, 1861, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ficker_Vom_Reichsf%C3%BCrstenstande_030.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2018)