Wenn von der älteren Märchenliteratur die Rede ist, gehen die Gedanken zunächst nach dem Orient und vor allem nach dem alten Indien, jenem reichen Märchenlande, das die Aufmerksamkeit der Märchenforscher in so hohem Grade auf sich gezogen hat. In der älteren Literatur keines anderen Landes haben die Märchen einen so bemerkenswerten Platz wie in der Indiens. Man kennt eine ganze Menge alter Erzählungssammlungen, die von Indien ausgehend durch Übersetzungen in die Literatur anderer Länder übergegangen, ja bis nach Europa gedrungen sind. Wie gross die alte indische Märchenliteratur in Wirklichkeit gewesen ist, weiss man nicht, wenigstens ist es wahrscheinlich, dass sie nicht in ihrer Gesamtheit der Nachwelt erhalten geblieben ist.
Die berühmteste der indischen Erzählungssammlungen ist das Pañcatantra (Die fünf Bücher), dessen Entstehungsgeschichte nicht sicher bekannt ist. Th. Benfey hat in der Einleitung zu seiner deutschen Übersetzung (Pantschatantra: Fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen, 1859) die Entstehungszeit desselben auf die Zeit zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. beschränkt. Neuere Auffassungen über den Ursprung, das Alter u. a. der Sammlung befinden sich in der Pañcatantra-Übersetzung von J. Hertel (Tantrâkhyâyika, die älteste Fassung des Pantschatantra, aus dem Sanskrit übersetzt
Antti Aarne: Übersicht der Märchenliteratur. Suomalaisen Tiedeakatemian Kustantama, Hamina 1914, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FFC14.djvu/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)