Das innere Leben der Märchen ist sehr anziehend. Aus der Art ihrer Erhaltung folgt, dass sie im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen gewesen sind und noch fortwährend sind. Wir können ein und dasselbe Märchen mehrere hundert Male aus dem Volksmunde aufzeichnen, aber zwei auch in ihrer Wortform ganz gleiche Varianten sind unmöglich zu finden. Dies ist eine Folge des beschränkten Erinnerungsvermögens. Die Verfasser der literarischen Bearbeitungen der Märchen sind mit den volkstümlichen Erzählern zu vergleichen. Auch in ihren Händen hat sich die Erzählung verändert, obgleich die Ursachen der Veränderungen teilweise anderer Art sein können. Der Schreiber hat seine Veränderungen öfter als der volkstümliche Erzähler absichtlich gemacht. Seine Arbeit wurde von einem bestimmten, z. B. schönliterarischen oder didaktischen Ziel geleitet.
Es ist dem Forscher möglich über die Verhältnisse des inneren Lebens der Märchen Klarheit zu gewinnen. Die Veränderungen folgen nämlich bestimmten Gesetzen des Denkens und der Phantasie, die mit den in den sprachlichen Erscheinungen herrschenden Gesetzen der Sprache zu vergleichen sind. Die Veränderungen sind durch bestimmte Ursachen hervorgerufen. Es geschehen zwar auch vom Zufall abhängige Veränderungen, aber sie sind selten und dem erfahrenen Forscher leicht erkennbar.
Ich werde im Folgenden die bemerkenswertesten dieser Gesetze darstellen.
Wenige Umstände verursachen in den Märchen so viele Veränderungen wie das Vergessen eines Zuges (einer Person, eines Gegenstandes, eines Ereignisses u. a.). Das Vergessen betrifft seltener die für die Ganzheit der Erzählung wichtigen Grundzüge. Gewöhnlich gerät ein Umstand in Vergessenheit, der mit der übrigen
Antti Aarne: Leitfaden der vergleichenden Märchenforschung. Suomalaisen Tiedeakatemian Kustantama, Hamina 1913, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FFC13.djvu/27&oldid=- (Version vom 31.7.2018)