Am folgenden Tage kam er früher als gewöhnlich und fand Thekla allein. Sie saß auf dem Platze ihrer Mutter in dem kleinen braunen Salon, ihre Arbeit im Schoße. Sie hatte sich aber weder mit dieser beschäftigt noch mit dem Buche, das aufgeschlagen neben ihr auf dem Tischchen lag. Sie saß unbeweglich da, wie eine Statue, Ebenmaß in jeder Form, Schönheit in jeder Linie. Als Paul eintrat, erhob sie sich und ging ihm entgegen, lächelnd und freundlich wie immer, in ihrer anbetungswürdigen Herrlichkeit. Er hatte die Nacht in schwerem Kampfe durchwacht, seine Heftigkeit verwünscht und schmerzlich bereut. Er erwartete, Thekla verstimmt zu finden, gekränkt über sein gestriges, kindisches Gebahren, er meinte sie versöhnen zu müssen, und er wollte es! … Statt dessen begrüßte sie ihn holdselig und unbefangen, als wäre ihr Einvernehmen nicht durch den leisesten Schatten getrübt worden. Sogleich stieg, mit unsäglicher Bitterkeit, die Frage in ihm auf: „Hab’ ich nicht einmal die Macht, ihr weh zu thun?“ – doch bezwang er sich und sprach ruhig: „Thekla, ich war gestern widerwärtig, unerträglich – können Sie mir verzeihen?“
Sie wurde ein wenig roth, ein wenig verlegen und antwortete hastig wie Jemand, der einer unangenehmen Erörterung auszuweichen sucht: „Ich bin ja gar nicht böse gewesen.“
„Verdanke ich diese Nachsicht Ihrer Barmherzigkeit oder Ihrer Gleichgültigkeit? Antworten Sie mir,“ setzte er halb flehend, halb herausfordernd hinzu.
Marie von Ebner-Eschenbach: Nach dem Tode. In: Erzählungen. Berlin: Gebrüder Paetel, 1893, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erz%C3%A4hlungen_von_Marie_von_Ebner-Eschenbach.djvu/336&oldid=- (Version vom 31.7.2018)