Augenblick wird kommen, in welchem er’s erfährt, und dieser wird für ihn ein entscheidender sein.“
Mit gesenktem Haupte hatte Marianne seinen Worten gelauscht, die beinahe völlig ihre eigenen Gedanken aussprachen.
„Sie rathen mir also – “ fragte sie zögernd.
„Zu mißtrauen!“ rief er, „dem Schicksal immer dann am ängstlichsten zu mißtrauen, wenn es ein ungetrübtes Glück zu verheißen scheint. Die boshaften Mächte, die über dem Menschendasein walten, geben entweder den Durst oder die Labe, das Schwert oder die Faust, die es führen könnte; sie geben jenem den Wunsch, diesem die Erfüllung, und wo ich äußere Uebereinstimmung sehe, weiß ich auch: hier ist innerer Zwiespalt.“
„Etwas geb’ ich zu von alledem,“ sprach Marianne, „ohne deshalb an Ihre „boshaften Mächte“ zu glauben. Und – vollkommenes Glück! wer denkt daran?“
„Nicht wahr?“ rief er, „besonders in unserem tugendreichen Zeitalter, das jedes andere Glück verbietet als das pflichtmäßige.“
„Das haben frühere Zeitalter wohl auch gethan.“
„O nein! Als noch Leidenschaft, Kraft und Muth auf Erden herrschten, da war es anders. Naivetät entschuldigte die Schuld. Munter verübten die alten Götter ihre Frevel, und die Menschen ahmten ihnen unbefangen nach. Wenn Antonius und Kleopatra sündigten, applaudirten zwei Welttheile. Jetzt schleicht die Sünde lichtscheu umher, und feige Reue heftet sich an ihre Fersen. Wir,
Marie von Ebner-Eschenbach: Nach dem Tode. In: Erzählungen. Berlin: Gebrüder Paetel, 1893, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erz%C3%A4hlungen_von_Marie_von_Ebner-Eschenbach.djvu/324&oldid=- (Version vom 31.7.2018)