Wolfgang (aufspringend): Auch aus Berlin? Von der Redaktion?
Magdalene: Nein, lauter Stadtbriefe.
Wolfgang (erschrickt): Stadtbriefe?
Magdalene (Sucht in ihrer Tasche nach den Briefen.): Der Postbote gab sie mir auf dem Treppenflur. Da – (ängstlich) drei Stück, Wolfgang!
Wolfgang (Öffnet hastig nach einander die Briefe und liest): Sehr gut, sehr gut. – Noch besser. – Gut also. – (Springt auf und geht erregt im Zimmer auf und ab.)
Magdalene: Was ist mit den Briefen?
Wolfgang (Wolfgang setzt seine Wanderung fort, ohne zu antworten. Dann plötzlich, als habe er jetzt erst gehört, antwortet er): Wie? – Was wünschest du? – Ach so – verzeih – ich habe dich von dem Genuß ausgeschlossen. – Da (giebt ihr die Briefe) Kündigungen, Kündigungen, Kündigungen! „Umstände halber“ und „Verhältnisse halber“ und „aus gewissen Gründen“ können die Leute mich nicht mehr bei ihren Kindern gebrauchen!
Magdalene: Aber – mein Gott – jetzt hast du ja nur noch die Stunden in der Töchterschule! (Es klopft.)
Wolfgang: Herein! Lupus in fabula – ich möchte wetten!
Emilie Stebeling (Vorsteherin einer Töchterschule, ältliche rundliche Dame mit schwarzem, geschmacklos einfachem Kleide, glatt an die Schläfen gekämmtem Haar und Brille. Altjüngferliches
Otto Ernst: Die größte Sünde. Conrad Kloss, Hamburg 1895, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ernst_Die_groesste_Suende.djvu/71&oldid=- (Version vom 13.6.2022)