Appiani. (nachdenkend und schwermüthig) Bedeuten Thränen – bedeuten Thränen!
Emilia. Wie? Ihnen fällt das auf? Ihnen?
Appiani. Ja wohl; ich sollte mich schämen. – Aber, wenn die Einbildungskraft einmal zu traurigen Bildern gestimmt ist –
Emilia. Warum ist sie das auch? – Und was meynen Sie, das ich mir ausgedacht habe? – Was trug ich, wie sah ich, als ich Ihnen zuerst gefiel? – Wissen Sie es noch?
Appiani. Ob ich es noch weiß? Ich sehe Sie in Gedanken nie anders, als so; und sehe Sie so, auch wenn ich Sie nicht so sehe.
Emilia. Also, ein Kleid von der nehmlichen Farbe, von dem nehmlichen Schnitte; fliegend und frey –
Appiani. Vortrefflich!
Emilia. Und das Haar –
Appiani. In seinem eignen braunen Glanze; in Locken, wie sie die Natur schlug –
Emilia. Die Rose darinn nicht zu vergessen! Recht! recht! – Eine kleine Geduld, und ich stehe so vor Ihnen da!
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Christian Friedrich Voß, Berlin 1772, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Emilia_Galotti_(Lessing_1772).djvu/55&oldid=- (Version vom 31.7.2018)