Walther Kabel: Eine merkwürdige Liebesgeschichte. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 202–206 | |
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nun durch Bestechung des Hotelpersonals so einzurichten, daß man ihn ihr als angeblichen Fremdenführer empfahl. Seine Hoffnung, die Sängerin würde in ihm nicht jenen galanten Kutscher wiedererkennen, erfüllte sich wirklich. Ahnungslos nahm die Mölmer den schlicht gekleideten Grafen als Begleiter an.
Bei der einen gemeinsamen Spazierfahrt blieb es nicht. Der vielseitig gebildete Fremdenführer, der das Deutsche und Französische ebenso fließend wie seine Muttersprache beherrschte, geleitete die Künstlerin in die Museen und Kirchen und verschaffte ihr auch Zutritt zu den Zarenschlössern, die sonst dem Publikum verschlossen blieben. Um die Mölmer aber nicht schließlich doch argwöhnisch zu machen, schrieb Lichatschew inzwischen immer wieder flehende Briefe an sie, und die Sängerin ahnte tatsächlich bis zuletzt nichts von dem wahren Sachverhalt.
Dieser bisher so romantische Liebesroman fand schließlich einen Abschluß, wie er kommen mußte: Ida Mölmer verliebte sich in ihren liebenswürdigen Begleiter, so daß dieser es wagen konnte, sich ihr nach Verlauf von kaum zwei Wochen zu erkennen zu geben und in aller Form um ihre Hand anzuhalten, die ihm auch nicht verweigert wurde.
Am 2. Februar 1876 wurde in Petersburg die Hochzeit des jungen Paares mit größtem Prunke gefeiert. Die Gräfin Lichatschew hat bis zu ihrem Tode in der Petersburger Hofgesellschaft eine bedeutende Rolle gespielt. Sie überlebte ihren Gatten nur um wenige Monate. Die Ehe der beiden galt überall als geradezu mustergültig.
Walther Kabel: Eine merkwürdige Liebesgeschichte. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 202–206. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_merkw%C3%BCrdige_Liebesgeschichte.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)