Zeigen uns jene kirchlichen Zuchtmaßregeln, zumal in ihrer Verquickung mit staatlichen, eine Verkennung des Wesens der Kirche, so tritt andrerseits verschiedentlich auch die Ohnmacht der Kirche klar zu Tage, wo es sich um deren sittliche Aufgaben handelt. So ist sie trotz aller Predigten völlig machtlos gegen die immer mehr überhandnehmende Völlerei und die Entartung des Luxus. Ebenso schwindet gerade im 17. Jahrhundert immer mehr die strenge Sittlichkeit der reformatorischen Zeit. Noch 1602 hatte, als eine Wittwe dem zweiten Kinde das Leben schenkte, die Gemeinde selbst ihre Vertreibung aus der Stadt gefordert; allmählich aber und zumal im 30 jährigen Kriege stumpfte sich das sittliche Gefühl gegenüber der wachsenden Zahl unehelicher Kinder immer mehr ab. Und ob man die Ursache der Unsittlichkeit wie der Altendresdner Diakonus 1671 in dem Treiben der Soldateska oder wie der Rath 1669 in dem Ammenwesen der hohen Herren suchte, vergeblich blieb jedenfalls das Bemühen, sie durch Predigt, kirchliche und weltliche Zuchtmaßregeln zu bekämpfen, vergeblich erst recht, seit das Beispiel des Hofes wie Gift auf das Volksleben wirkte und es der Kirche nicht gelang, das offenkundige Verhältniß Johann Georgs IV. zur Neitschütz irgend zu stören.
Das mangelnde innere Leben der damaligen Kirche aber tritt uns vor Allem entgegen, wenn wir einen Blick auf die Liebesthätigkeit des 17. Jahrhunderts werfen. Natürlich haben die zahllosen Bettler des 30 jährigen Krieges auch aus Kirchenmitteln Unterstützung gefunden und auch Stiftungen für die Gotteshäuser sind zumal nach dem Brand des Kreuzthurmes und der Zerstörung der Altendresdner Kirche durch das Feuer von 1685 verschiedentlich gemacht worden. Im Uebrigen aber ist von einer geordneten kirchlichen Liebesthätigkeit damals so wenig die Rede, daß die Armenversorgung vielmehr sogar immer völliger in die Hände des Raths überging. Oeffentliche Ordnungen waren die Dresdner Bettel- und Almosenordnungen von 1626 und 1656 und wenn auch die für die Armen bestimmten Naturalien noch 1656 in den Gewölben der Kreuzkirche aufbewahrt und bis 1684 unter Mitbetheiligung des Pfarrers beim Almosenhaus an der Johanniskirche ausgetheilt wurden, so spielte doch die Kirche bei der Verwaltung des Almosenkastens thatsächlich nur eine ganz nebensächliche Rolle. Sie hatte eben über dem Eifern um den Glauben und seine Lehre die Liebe vergessen und die Geistlichkeit war durch ihre Predigtthätigkeit und Krankenseelsorge so in Anspruch genommen, daß sie für Pflege kirchlicher Liebe überhaupt keine Zeit fand. So ist denn auch die Entstehung des Findelhauses und 1685 die Gründung unseres Waisenhauses auf Anregung der städtischen Obrigkeit und durch diese, aber ohne Betheiligung der Kirche erfolgt.
Andrerseits, die Glaubenslehre hat die Kirche der Orthodoxie allerdings auf das treueste gepflegt und hat sie durch unablässige Predigt und besonders auch durch treue Seelsorge an den Kranken thatsächlich dem Volke tief ins Herz geprägt. In welchem Maße die Kirche Dresdens im 17. Jahrhundert überhaupt das ganze öffentliche Denken beherrschte, zeigt uns die Dramatik der Zeit und auch ein Theil der damaligen schönen Literatur. Die Stücke, welche die Kreuzschüler aufführen, behandeln zumeist biblische Stoffe; auch am Hofe werden bis zur Mitte des Jahrhunderts wiederholt noch geistliche Komödien zur Darstellung gebracht. So recht einen Blick in die Anschauungen der Zeit aber thun wir in einem 1666 in Dresden erschienenen Theaterstück des gekrönten Poeten Joh. Jos. Bekh: „der Schauplatz des Gewissens“. Es handelt von der Bekehrung eines Weltkindes, den größten Raum aber nimmt ein theologischer Streit zwischen dem Helden und je einem römischen, calvinistischen und lutherischen Priester ein. Was für einen Reiz mußten theologische Fragen damals auf die Gemüther ausüben, daß solche Schauspiele überhaupt erscheinen konnten! Dasselbe erkennen wir aus den „Christlichen Unterredungen“ des hiesigen Bürgermeisters Brehme, einem Werk von drei Bänden, das in endlosen Wechselgesprächen sich ausschließlich mit allerlei religiösen und kirchlichen Fragen befaßt und das für die damals verbreitete erbauliche Unterhaltungsliteratur bezeichnend ist. Die Zeit war eben durchaus kirchlich beeinflußt und wenn man auch, wie Bekhs Schauspiel im Einzelnen zeigt, sich von der orthodox-lehrhaften Haarspalterei innerlich abgewendet hatte, gegen Papisten und Calvinisten trug man doch noch einen rechtschaffenen Haß im Herzen. Deutlich tritt uns die Abneigung zumal gegen die Calvinisten auch in den Reisetagebüchern der Altendresdner Bürger entgegen, die nach dem großen Stadtbrand 1685 ganz Deutschland Almosen sammelnd durchzogen, nicht minder in zahlreichen Eingaben der Bürgerschaft gegen das Ueberhandnehmen des Katholicismus und das Eindringen Reformirter.
Doch hat die Kirche nicht nur Abneigung gegen Andersgläubige gesäet, sondern auch warme Liebe für den evangelischen Glauben. In dieser ihrer Liebe zum Lutherthum sah Dresdens Bürgerschaft in der Niederlage von Wittstock die Vergeltung für das Judaswerk des Prager Friedens und so groß war damals die Erregung in der Residenz, daß Johann Georg I. sich genöthigt sah, von den Kanzeln eine Rechtfertigung seines Bündnisses mit dem Kaiser verlesen zu lassen, um die evangelische Bürgerschaft zu beschwichtigen. Wie aber am Ende des Jahrhunderts der Uebertritt August des Starken für das evangelische Dresden geradezu ein Schmerz war, dafür sind der Beispiele so viele, daß es unnöthig erscheint, einzelne anzuführen.
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 3 (1901 bis 1904). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1901 bis 1904, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Dritter_Band.pdf/40&oldid=- (Version vom 3.9.2024)