Zum Inhalt springen

Seite:Die zehnte Muse (Maximilian Bern).djvu/300

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die zehnte Muse

( gemeinfrei ab 2028)


Adele Schreiber.




Das Konfirmationskleid.

In Nordberlin, im Hinterhaus vier Treppen,
wohnt ein Student. Er war nicht reich; doch arm,
blutarm war seine Wirtin, eine Witwe.
Die sass in ihrem düstern Hinterstübchen,

5
und vor ihr stand bekümmert ihre Tochter,

das bleiche, hübsche, vierzehnjähr’ge Gretchen.
Sie stand vor ihr, als wär’ sie schuldbewusst,
und liess das Köpfchen hängen; ihre Mutter
schalt auf sie ein mit ihrer harten Stimme:

10
»Ein neues Kleid! Zur Konfirmation!

Für’n lieben Gott! Was? – Frag doch mal den Pastor,
ob denn auch die, die nicht mal so viel Geld
bekamen, um in einem ganzen Kleide
des Sonntags in die Kirche gehn zu können,

15
ob denn auch die an Gott noch glauben müssten!

Geh, frag ihn … aber bitt mich nicht um Geld
Und Kleider … freu dich, wenn du nicht verhungerst …«

Und weinend wendet Gretchen sich zur Thür.
Da kommt ihr ein Gedanke. »Mutter«, ruft sie,

20
»ich will den Herrn Doktor bitten – Mutter!

Was lachst du?« – »Das ist recht! Nur zu!
Es muss ja doch mal kommen. Geh nur hin!« –
»Ich glaube, Mutter, dass er’s thut.« – »Gewiss
Er wäre ja ein Narr, wenn er sich zierte!«

25
Und wieder lacht sie bitter höhnisch auf.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/300&oldid=- (Version vom 4.1.2024)