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Seite:Die Werke italienischer Meister (Morelli).pdf/206

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die Kirche von S. Giobbe in Venedig gefertigt hatte[1]. Der Schüler hat wohl von seinem Meister gelernt, nicht aber umgekehrt; und Dürer scheint mir ganz recht zu haben, wenn er in einem Briefe von Venedig (1506) an seinen Freund Pirckheimer behauptet, Giovanni Bellini sei noch immer der größte Maler Venedig’s. Giorgione entfaltete erst in den letzten sechs Jahren seines kurzen Lebens, etwa von 1505 bis 1511, seine ganze, seine volle Kraft. Aus den wenigen Werken von ihm, die auf uns gekommen sind, – alle seine Wandgemälde hat, wie schon bemerkt, die Seeluft aufgezehrt – leuchtet uns sein origineller, hochpoetischer Geist so hell entgegen, spricht seine einfache, unbefangene, feine Künstlernatur so frisch, so einnehmend zu uns, daß, wer ihn einmal verstanden, ihn nie wieder aus seinem Geiste verlieren wird. Kein anderer Künstler weiß, wie er, mit so wenig Mitteln unsere Phantasie zu bezaubern, unsern Geist stundenlang zu fesseln, und doch wissen wir gar oft nicht einmal, was diese seine Figuren eigentlich bedeuten sollen. Schon Vasari bemerkte, daß es sehr schwer ist, Giorgione’s Darstellungen irgend einen erklärenden Namen zu geben[2]. Giorgione war eine echte, harmlose, lebensfrohe Dichternatur, ein Lyriker, im Gegensatze zu Tizian, der durch und durch Dramatiker war. Dieser letztere ist unstreitig ein gewaltigerer, energischerer Geist, Giorgione jedoch, wenigstens meinem Gefühle nach, ein Künstler von viel feinerem Schrot und Korn. In seinen landschaftlichen Hintergründen, im Reize der Linien und der Farben haben wenige den Giorgione erreicht, keiner aber ihn übertroffen, wenn wir vielleicht Tizian ausnehmen wollen. Seine Liebe gehörte der Musik, den schönen Frauen, und vor allem seiner hehren Kunst. Keiner war so unabhängig wie er, die Großen und Mächtigen


  1. Dieses zwar sehr stark beschädigte, aber immer noch herrliche Bild befindet sich in der Pinakothek von Venedig, No. 38.
  2. Siehe Vasari, Leben des Giorgione, Ediz. Le Monnier, VII, 84.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/206&oldid=- (Version vom 31.7.2018)