Zum Inhalt springen

Seite:Die Werke italienischer Meister (Morelli).pdf/202

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

zu besitzen sich rühmt, ist eine allegorische Darstellung und zwar, wie Herr Hübner meint, aus Ariosto’s Orlando Furioso. Ich erlaube mir, Herrn Hübner darauf aufmerksam zu machen, daß die erste Auflage des Orlando Furioso erst im Jahre 1516 erschien, also ungefähr fünf Jahre nach Giorgione’s Tod. Auch Herr A. Baschet hat dies Bild als Werk Giorgione’s citirt und so auch die Herren Cr. und Cav. (II, 154), doch schreiben diese es dem Girolamo Pennacchi zu. Meiner Meinung nach ist es eine alte Kopie nach einem echten Bilde des Giorgione; ob aber das Original noch erhalten sei, wüßte ich nicht anzugeben.

Wie meine jungen Freunde nach der Musterung der Werke, welche in der hiesigen und der Münchner Galerie dem Giorgione von den größten Kunstautoritäten aller Zeiten zugeschrieben werden, sich überzeugen können, ist dieser große Künstler, welcher mit Giovanni Bellini und Tizian wohl die erhabenste Figur unter den venezianischen Malern ist, schon seit Jahrhunderten zu einer Art Mythe geworden. Während man in München ihn mit Tizian und Palma verwechselt, schreibt Herr Hübner in seinem Kataloge der Dresdner Galerie demselben Werke zu, die, wie wir eben gesehen, dem Palma vecchio selbst oder einem seiner Schüler angehören, also stets entweder mittelbaren oder unmittelbaren Nachahmern des Giorgione. Anderswo bezeichnet man Gemälde des Sebastian del Piombo, des Lorenzo Lotto oder des Dosso Dossi mit dem Namen des Barbarelli und dies auch noch im besten Falle, der Nachäffungen eines Domenico Caprioli oder gar eines Pietro Vecchia, die man dem Meister von Castelfranco in die Schuhe schiebt, gar nicht zu gedenken.

Wie sollen wir nun mitten in diesem allgemeinen Wirrwar wahre Einsicht und Erkenntniß dieses feinsten und phantasiereichsten aller venezianischen Künstler erlangen? Daß Giorgione wirklich groß in seiner Kunst war, wird uns nicht nur durch die hohe Meinung, die seine Zeitgenossen von ihm hegten, bezeugt, sondern vielmehr

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/202&oldid=- (Version vom 31.7.2018)