Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin | |
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diesem vermeintlichen opus Raphaelis halten soll. Der verstorbene Passavant sah es als eine Studie an, als einen Versuch in der Freskomalerei, ehe Raffael die Ausführung des Freskobildes in S. Severo zu Perugia unternahm (I, 72).
Das wäre ja alles ganz schön und gut, wenn dieser unbedeutende Kopf auch nur eine Spur Raffaelischer Art an sich hätte. Aber näher besehen, wie unraffaelisch sind doch z. B. die geist- und geschmacklosen Haarlocken, wie hart und ohne die geringste Anmuth ist der Hals modellirt! Offen gestanden, mir ist dieser h. Johannes äußerst verdächtig, und ich befürchte fast, daß diese Raffaelische „Probe in der Freskomalerei“ als eine moderne Fälschung sich herausstellen könnte.
In demselben Cabinet ist unter Nummer 1206 die weltberühmte „Madonna de’ Tempi“, d. h. vom Hause Tempi in Florenz, aufgestellt. – Passavant setzt diese Jugendarbeit des Urbinaten etwa ins Jahr 1506, also in jene Zeit, wo Raffael die sogenannte „Madonna im Grünen“ der Belvederegalerie von Wien gemalt hat. Mir nun scheint das Bild einer noch früheren Epoche des jungen Meisters anzugehören, jener Zeit etwa, in der die s. g. Madonna del Granduca der Galerie Pitti zu Florenz entstand, und jedenfalls früher als die „Madonna im Grünen“, als die Madonna des Lord Cooper und die Madonna degli Ansidei. – Leider war dieses Gemälde längere Zeit im Hause Tempi wie vergessen und verschollen, und später hat es durch ungeschickte Restauration hart leiden müssen, so daß in seinem gegenwärtigen Zustande fast ungenießbar ist. Die Landschaft ist verputzt und unfertig geworden, der Mund der Maria ist entstellt und sieht so aus, als ob die h. Jungfrau an Zahnschmerzen litte; auch haben Stirn und Nase ihre Originalcontouren eingebüßt, die Lider des linken Auges sind gleichfalls verdorben. Gut erhalten ist dagegen der Kopf des Christkindes, jedoch mit Ausnahme des Contours des linken Backen. In der Modellirung gleichen die Hände der Madonna del Granduca, scheinen
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/114&oldid=- (Version vom 31.7.2018)