Das Schloß Wißneck liegt zu oberst in dem lieblichen Kirchzartner-Thale. Rechts von ihm zieht die Landstraße nach Schwaben vorbei, und kein Reisender wandert vorüber, ohne sich der romantischen Ruinen auf dem kleinen, mit Gras und Buschwerk überzogenen Vorhügel zu erfreuen. Rückwärts befindet sich ein Brunnen, um welchen sich zur Mittagszeit die Herden lagern und erquicken. Dort sitzen auch die Hirten und schneiden Stäbe oder versuchen sich auf ihren Pfeifen. Hie und da mag wohl ein Thalmädchen dadurch angelockt werden; dem Schloßfräulein aber war solches Getöse zuwider und sie ließ sich nach dieser Seite hin niemals blicken. Dagegen schien ein anderer Hirtenknabe ihr Liebling zu sein, der gewöhnlich von den Uebrigen abgesondert in der biblischen Geschichte oder einem andern Buche las.
Anfänglich zeigte sie sich ihm aus der Ferne, lächelte als sie ihn ein Kreuz schlagen sah, wie ihn seine Mutter gelehrt hatte, und verschwand wieder. Nach und nach kam sie näher und der Knabe legte seine Furcht ab. Dabei war es auffallend, daß sie stets über die gleiche Stelle nahe bei den Mauern hinging, einige Augenblicke sinnend daselbst verweilte, und sich dann wieder schnell entfernte.
Eines Tages dachte der Knabe, er wolle doch nachsehen, was es mit diesem Stillstehen für eine Bewandtniß habe, merkte sich den Ort und ging nach einiger Zeit hin. Sieh, da glänzte ihm etwas aus dem Grase, wie ein Silberstück entgegen; schnell bückte er sich und hatte einen Thaler, aus den Schwedenzeiten, in denen das Schloß zerstört worden war, in der Hand. Hocherfreut wühlte er mit seinem Stabe die Erde ein wenig auf, und es kamen noch mehr solcher Stücke zum Vorschein. Schon wollte er, der noch niemals
Heinrich Schreiber: Die Volkssagen der Stadt Freiburg im Breisgau. Franz Xaver Wrangler, Freiburg 1867, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Volkssagen_der_Stadt_Freiburg_im_Breisgau.djvu/97&oldid=- (Version vom 31.7.2018)