Ich wasche mir die Augen wieder klar;
Zurückversetzt bin ich in ferne Tage,
Lebendig wird mir dieser Berge Sage.
Fort ist jedwede Spur von Menschenhand;
Nichts seh ich mehr, als eine Felsenwand,
Ringsum nur Wald, dicht von Gesträuch durchwunden.
Ich höre keinen Laut, als nur ganz weit
Den Schlag der Drossel durch die Einsamkeit,
Da rauschts und knisterts plötzlich in den Zweigen.
Und eine holde Jungfrau stürzt hervor,
Scheu wie ein Reh und bleich wie eine Lilie,
Und kniend schreit zum Himmel sie empor:
Dicht hinter mir sind die Verfolger her,
Die wunden Füße tragen mich nicht mehr;
O rette mich vor dem verhaßten Freier,
Und hülle gnädig mich in deinen Schleier.“
Wildjubelnd Ritter mit Gefolge dringen;
„Hier ist sie.“ ruft es roh von Mund zu Mund,
„Das scheue Bräutchen kann nicht mehr entspringen!“
Und fassen will sie schon der wilde Hauf;
Ottilie fliegt hinein, und wie zum Spotte
Schließt sich der Felsen wieder vor der Rotte.
Und an dem Orte, wo die Wand sich schloß,
Entspringt dem Felsen murmelnd eine Quelle;
Und fallen betend nieder an der Stelle.
Heinrich Schreiber: Die Volkssagen der Stadt Freiburg im Breisgau. Franz Xaver Wrangler, Freiburg 1867, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Volkssagen_der_Stadt_Freiburg_im_Breisgau.djvu/57&oldid=- (Version vom 31.7.2018)