Bart nicht mehr gelockt nach Judenart zu tragen, im Namen der Gleichheit sollten sie ihre gesonderten Gottesäcker und ihre Sabbathfeier aufgeben, im Namen der Bruderliebe sollten sie alle aus dem Lande gejagt werden, wenn sie sich nicht dazu verstehen wollten, Ackerbau zu treiben. Erst unter Kaiser Napoleon I. wurden nach Regelung der kirchlichen Verhältnisse auch die Verhältnisse der Juden in freiheitlichem Sinn geordnet.
In Deutschland finden sich im neunzehnten Jahrhundert noch einzelne, aber nur schwache Anklänge an die früheren Judenverfolgungen, indem aus Lübeck im Jahre 1818, aus Meiningen im Jahre 1819 die Juden ausgewiesen wurden.
Gegenwärtig scheint in manchen besonders protestantischen Gegenden Deutschlands der Geist Luthers wieder erwacht zu sein und im Antisemitismus seine Auferstehung gefeiert zu haben; aber auch im katholischen Österreich hört man wieder viele und schwere Anklagen gegen die Juden, und auch dort scheint der Antisemitismus sich immer weiter auszubreiten.
Doch die schwerste Heimsuchung, die in unserem Jahrhunderte über die Juden gekommen ist, dürfte die im gegenwärtigen Jahre erfolgte Ausweisung der Juden aus Rußland sein.
Wie in anderen Ländern war auch in Rußland die Behandlung der Juden zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene; sie wurden bald geduldet, bald verfolgt. Im vorigen Jahrhunderte fanden sie Duldung unter dem Kaiser Peter I., während dessen Tochter Elisabeth im Jahre 1745 sie vertrieb, worauf später Kaiser Alexander I. ihnen wieder ausgedehnte Gewerbefreiheit einräumte. Die gegenwärtige Austreibung der Juden aus Rußland soll eine allgemeine und aus religiösen Beweggründen hervorgegangene sein. Die Äußerung des Kaisers Alexander III:, „wir sollten nie vergessen, daß es die Juden waren, welche unseren Herrn kreuzigten und sein kostbares Blut vergossen,“ soll thatsächlich als Randbemerkung auf eine Eingabe zu gunsten der Juden von ihm niedergeschrieben worden sein, und die Juden meinen, daß sie von diesem Kaiser nichts Gutes zu erwarten hätten. Sie könnten, wie es heißt, nur dann in Rußland bleiben, wenn sie nicht bloß ihre äußerlichen Stammeseigenheiten ablegten, sondern sich auch zur russischen Kirche bekehrten, deren weltliches und geistliches Oberhaupt der Kaiser ist. Es scheint aber, daß auch diesmal wieder weitaus die meisten Juden lieber das Land, als ihren Glauben verlassen wollen.
Wir haben gesehen, wie im Laufe der Jahrhunderte auch von seiten der Katholiken die Juden manchmal aus religiösen Gründen verfolgt wurden. Ob die Gründe berechtigt waren, oder nicht, müßte für jeden einzelnen Fall untersucht werden, und solche Untersuchungen sind auch von den zuständigen Behörden wirklich angestellt worden. Wir haben erwähnt, wie die Juden von katholischen Regierungen gestraft wurden, weil sie sich in verräterische Verbindungen mit Christenfeinden eingelassen hatten; wir haben auch erzählt, wie die Juden gezüchtigt wurden, weil sie, wie gerichtlich festgestellt wurde, Christenknaben gemartert hatten. Wir wollen noch einige derartige Fälle namhaft machen, um eine Frage näher zu beleuchten, die in der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit wieder häufiger besprochen worden ist.
Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)