Verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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Fräulein Hofer aber wußte durch die Ausplaudereien Lily’s, woher diese Aversion gegen die Hochachtung stammte, dagegen hatte sie keine Ahnung von der Intrigue, die Fräulein Lily auf eigene Hand eingefädelt hatte und deren Opfer sie selbst war. Sie ahnte nicht, daß ihr Mitleid und ihre unbefangene Theilnahme für etwas ganz anderes genommen wurden, und packte ganz ruhig erst die Acten und dann den Justizrath in ihren Schlitten, endlich stieg sie selbst ein und befahl dem Kutscher, nach der Försterei zu fahren.
Der Justizrath war sanftmüthig wie ein Lamm und ließ alles Mögliche mit sich vornehmen, nur bei der Abfahrt warf er noch einen bedenklichen Blick hinüber nach der Geisterspitze, dem „weißen Ungethüm“, das sein in der Verzweiflung gethanes Gelübde gehört und angenommen hatte. War er denn nun wirklich verpflichtet, an die Hexerei zu glauben?
Eine Viertelstunde später kam ein Bauernschlitten an, auf dessen Vordersitz sich Anselm und ein Knecht befanden, der die Pferde lenkte, aber Beide waren im höchsten Grade erstaunt und verblüfft, als sie die Unglücksstätte leer fanden. Die Trümmer des Schlittens lagen zwar noch an der alten Stelle, von dem Justizrath aber zeigte sich keine Spur.
„Er hat nicht länger warten wollen, und hat sich zuletzt selbst auf den Weg gemacht,“ meinte der Knecht, aber Anselm schüttelte den Kopf.
„Er konnte nicht fünf Schritte weit gehen, und dann hätten wir ihm ja auch begegnen müssen.“
Sie suchten noch einmal die ganze Windung des Weges ab, spähten in die Tiefe, riefen nach allen Himmelsgegenden; vergebens, der Justizrath war und blieb verschwunden. Die Männer blickten sich rathlos an, sie hatten beide denselben Gedanken und schauderten.
„Die Eisjungfrau hat ihn geholt!“ sagte Anselm endlich im Flüstertone. „Er hat sie gelästert, dafür hat sie ihn nun mit Haut und Haar genommen.“
„Ja, das hat sie gethan!“ bestätigte der Knecht, indem er die Hände faltete und einen scheuen Blick nach der Geisterspitze hinübersandte.
Anselm trat an den Rand des Weges und schaute in die Tiefe.
„Und die Acten hat sie auch geholt!“ rief er mit einem erneuten Schauder. „Schrecklich!“
„Gräßlich!“ bestätigte der Knecht, und dann bestiegen sie schleunigst wieder ihren Schlitten und flohen so schnell als möglich den Schauplatz des Entsetzlichen. Sie jagten im Galopp davon, um überall die Schauernachricht zu verbreiten, die Eisjungfrau habe den Justizrath Freising geholt, und er sei hinfort, zur Strafe für seine Freigeisterei, für ewig auf die Geisterspitze gebannt.
Brillensünden.
Der Nichtarzt glaubt gewiß, die Lehre vom Sehen sei schon seit langer Zeit nach allen Seiten hin völlig aufgeklärt. Forderte doch, so denkt er, kein anderer Theil unseres Körpers gleich gebieterisch den Such- und Scharfsinn der ärztlichen Forscher und Denker geradezu stündlich heraus, wie das wunderbare Sinneswerkzeug, mit Hülfe dessen sich uns die Welt erschließt und dessen Verlust ein so unsagbar trauriger ist. Darin hat er nun Recht: am Forschen nach den Gesetzen, welche das Auge und das Sehen regieren, hat es von jeher nicht gefehlt; ganz besonders eifrig wurden sie aber gesucht, nachdem der große Astronom Kepler und der Naturforscher Pater Scheiner, also zwei Deutsche, im siebenzehnten Jahrhundert die glänzenden Ecksteine des Baues geliefert hatten. Unter Dach und Fach ist die Lehre jedoch erst nach langer Frist gebracht worden. Die menschliche Erkenntniß wächst eben leider auf allen Gebieten gar langsam in die Höhe! Ganz besonders gilt aber dieser Satz für die medicinischen Wissenschaften, in denen die volle Begründung einer Wahrheit und die vollkommenste Durchführung der darauf fußenden Hülfe oft genug Jahrhunderte in Auspruch nahm.
So ist es denn auch gekommen, daß erst seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten unsere Kenntnisse von den naturgesetzlichen Bedingungen der Gesichtswahrnehmungen zum Abschlusse gelangt sind. Nach Aneignung dieser aber war wiederum erst die Lehre von der Wirkung und richtigen Anwendung der Brillen, die bis dahin immer nur roh routinenmäßig ausgesucht werden mußten – und sagen wir es sogleich, leider vom Publicum auch jetzt noch in Fortsetzung dieser früheren Gewohnheit mit überwiegender Häufigkeit nicht anders ausgewählt werden – einzig und allein möglich. Die heutige Brillenlehre ist also noch sehr jung.
Zum Ausbaue dieses Wissenschaftszweiges – denn um eine Wissenschaft handelt es sich – haben die deutschen Aerzte Stellwag von Carion in Wien, Helmholtz in Berlin und der niederländische Forscher Donders die Schlußsätze geliefert. Bevor wir aber diese darstellen wollen, bitten wir den Leser, sich die kleine Mühe nicht verdrießen zu lassen, uns aufmerksam zu folgen; der Gewinn an Einsicht wird ihm Entschädigung dafür sein; mathematische und physikalische Formeln werden wir übrigens Niemandem zumuthen. – Jene Schlußsätze lauten etwa folgendermaßen:
Selbst im ganz gesunden Auge müssen zwei Hauptbedingungen erfüllt sein, wenn alles gut und recht, das heißt wenn genaues und scharfes Sehen, sowohl in die Nähe wie in die Ferne, möglich sein soll.
Erstens: das Auge muß richtig gebildet und gebaut sein; denn nur dann können die Lichtstrahlen oder, was dasselbe sagt, die Abbilder der äußeren Gegenstände so in’s Augeninnere gelangen und hier so gelenkt und geleitet werden, daß genau auf der empfindenden Netzhaut eine deutliche Photographie entstehen und dem Bewußtsein von dieser zugeführt werden kann: das Bild des Punktes a (Fig. 1) muß bei b auf den gelben Fleck treffen.[1] Augen, bei denen dies der Fall ist, nennt man im täglichen Leben gute Augen, und die Besitzer derselben rühmen sich ihres vollkommen guten Gesichts, das keiner Brillenhülfe bedarf. Solche Augen haben, von vorn nach hinten gemessen, eine mittlere Länge, sind weder zu kurz, noch zu lang. „Beim Sehen hat also auch der Zollstab eine Bedeutung?“ Gewiß hat er diese! denn nur beim Gesehenwerden ist unter Umständen das nicht zahlgemäße poetische Himmelblau sowie der aus der Nacht dunkler Lockenfülle hervorstrahlende Glanz der Augensterne maßgebend, selbst das Grüngelb derselben, wenn freilich auch in ungünstigerem Sinne, aber beim Sehen gilt blos Maß und Zahl.
In einer anderen Reihe von Augen ist der Durchmesser von der Hornhaut bis zum Augengrunde zu groß, wobei auch die Linse gewöhnlich zu stark gewölbt ist und somit ein zu starkes Brechvermögen hat. Es können und müssen dann (vergl. Fig. 2.) die Bilder nicht gerade auf, sondern schon vor der Netzhaut (bei b) entstehen. Diese letztere erhält deshalb nur eine Art Schattenbild mit undeutlichen Umrissen (bei c), liefert eine verschwommene Photographie. Wenigstens dann, wenn die Gegenstände einigermaßen entfernt sind, werden sie nicht scharf gesehen. In
der Nähe dagegen sehen solche Augen gut und ausdauernd.
- ↑ Um Wiederholungen und Weitläufigkeiten zu vermeiden, bitten wir unseren Artikel in Nr. 7 dieses Jahrganges über den Augenspiegel zu vergleichen. Fig. 1 daselbst erläutert den Bau des Auges, Fig. 2 zeigt den gelben Fleck; der Text erklärt die Wirkung der Netzhaut. In Fig. 2 müssen die Buchstaben c und d gewechselt werden.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_320.jpg&oldid=- (Version vom 2.1.2024)