verschiedene: Die Gartenlaube (1883) | |
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begegneten, abgezehrte Frauen, Kinder mit eingefallenen bleichen Gesichtchen, Männer in unsauberer Kleidung, aber jeder mit irgend einem rothen Streifen an Mütze, Hose oder Rock, müßiges Herumlungern, aber selten Bettelei. Einen anständig gekleideten Menschen habe ich auf dem langen Gange so wenig gesehen, wie ein anderes lebendes Wesen außer den Menschen. Das Ergreifendste waren mir mehrere Kinderleichenbegängnisse; da diese alle nach einer Richtung zogen, so erkannte ich später auf dem Plane von Paris, daß ich mich in der Nähe des „Cimetière du Mont Parnasse“ (des Friedhofs vorn Berge Parnaß) befanden und daß ich also auch dem Versailler Linken-Ufer-Bahnhof ziemlich nahe gewesen war.
Um einem solchen Leichenzuge auszuweichen, hatte ich eine Seitengasse zum Abbiegen benutzt und war da in eine Art Gartenstraße gerathen, deren Fußsteige ein tiefer liegender Fahrweg trennte. Hinter den Gärten lag zu beiden Seiten eine Reihe von ein- und zweistöckigen Häusern, alle mit dem Genfer rothen Kreuz, aber auch mit dem großen mit Kreide angeschriebenen V (Varioleux) bezeichnet, das ich schon von Orleans her kannte. Hier waren Blatternkranke abgesperrt. Die Gasse dehnte sich weit hin, sodaß man wohl dabei das Gruseln lernen konnte. Ich war froh, daß ein milder Regen nieder zu fließen begann, unter dem ich vorwärts eilte.
Plötzlich stand ich vor einer Bretterwand, die eine Straße absperrte. Durch die Spalten sah ich eine Reihe zertrümmerter Häuser. Hier überlegte ich eben, wohin nun? Da zog eine Arbeiterschaar des Wegs vorüber, der ich nachging. Der Regen troff immer stärker, und der Abend nahte. Die Straßen wurden noch öder und doch sollte da noch der Zufall mir eine Kunde bringen, nach welcher ich nicht zu fragen gewagt hatte. Von einem Fenster aus rief eine Stimme einem der Arbeiter zu, ob er von der Rive-gauche-Eisenbahn komme.
„Ja,“ antwortete dieser, „aber sie geht noch nicht“ (il ne marche pas encore).
Da wußte ich’s nun, daß ich meine Hoffnung, heute noch nach Versailles zu kommen, aufgeben mußte.
Ich kann hier nicht wiederholen, was ich früher (1871, S. 156 und 205) von meinen Versuchen in mehreren Kaufläden, ob man deutsches Geld annehmen werde, erzählt habe. Sie waren total mißlungen, und so entschloß ich mich kurz, zum Bahnhofe von Orleans und womöglich nach Vitry zurückzukehren. Ich war von der Seine, die ich spät endlich erreicht hatte, wieder ab in eine der südlichen Straßen gekommen. Der Himmel hatte sich aufgeheilt, und so sah ich am Ende einer Straßenperspective ein hohes Gebäude mit Glasbedachung aufragen, das ich für den gesuchten Bahnhof hielt. Ich steuerte darauf los, erkannte war bald meine Täuschung, fragte nun aber doch den stattlichen Mann am Thore nach dem „Gare d’Orléans“.
„Plus gauche, monsieur!“ („weiter links“) sprach er mit einem gnädigen Handwink. Und ich ging plus gauche und immer plus gauche – und als ich, je mehr die Dämmerung zunahm, um so hastiger plus gauche gelaufen war, kam ich wieder bei demselben Thore an. Da verließ mich alle Geduld und Ueberlegung; ich wetterte auf gut deutsch alle Millionen Donner und Hagel auf das verdammte Nest heraus, sodaß ein Hause spielender Knaben und neben diesen eine Gruppe von Männern zu mir herschauten, und vergaß alle Vorsicht soweit, daß ich, eine Hand voll Kupfermünzen (von denen man in Orleans, wo damals alle Münzsorten der deutschen Länder coursirten, immer die Tasche voll hatte) den Buben entgegenstreckend, rief: „Wer von Euch will mich zum Gare d’Orléans führen’?“ Ich hatte noch nicht ausgesprochen und war schon von den Jungen umringt, als von der Gruppe der Männer einer zu mir hersprang und mir zuflüsterte, ich solle mich vor den Buben hüten, er wolle mich führen. Im selben Augenblicke schleuderte ich die Hand voll Münzen über den Köpfen der Jungen in die Luft, und während diese darüber herstürzten, zerrte der Mann mich fort und hatte mich so rasch von dem gefährlichen Schauplatze entfernt, daß ich heute noch nicht weiß, wie geschickt er das eingerichtet. Bald befand ich mich mit ihm allein auf einer breiten Straße, und nun bat ich ihn um Erklärung des Vorgangs.
„Daß Sie kein Pariser, ja nicht einmal ein Franzose sind, verrieth Ihr erstes Wort,“ sprach er. „Sie waren auch von den Jungen als Fremder erkannt, diese würden Ihr Geld genommen und dann Sie verrathen haben. Man liebt jetzt in Paris die Rache an den Fremden. Ein Haufen Volk ist jetzt geschwind beisammen, wo man ruft: ,Hier ist ein Preuße! Hier ist ein Spion!’ Was wäre dann geschehen? Ihr Leben stand in Gefahr. Gestehen Sie mir jetzt: was wollten Sie in Paris?“
„Ich wollte durch Paris nach Versailles,“ gestand ich offen. „Und weil ich nicht nach Versailles kommen konnte und nicht französisches Geld genug eingewechselt habe, um hier bleiben zu können, so ist’s jetzt meine einzige Absicht, sofort wieder aus Paris hinaus und nach Vitry zurück zu gelangen.“
„Das ist nicht nöthig, wenn Sie vorsichtiger sein wollen, und auch Geld ließe sich beschaffen,“ sagte er nun viel ruhiger. „Wenn Sie sonst nichts daran verhindert, so können Sie hier übernachten und dann morgen wenigstens erst einen Gang durch Paris machen, ehe Sie wieder abreisen.“
„Ja, wenn Sie, mein Herr, mich führen wollen, mit Freuden!“ rief ich da, und als er mit einem eigenthümlich freundlichen Blicke auf mich sofort sein:
„Herzlich gern, mein Herr!“ aussprach, konnte ich nicht länger an mich halten; ich mußte die Frage an ihn richten: „Lieber Herr, gestehen Sie mir offen, warum nehmen Sie solchen Antheil an mir fremdem altem Manne’?“
„Warum?“ sagte er da plötzlich sehr ernst. „Eben wegen Ihrer grauen Haare und weil Sie meinem lieben alten Vater so ähnlich sehen. Als ich Sie in der Gefahr erblickte, war’s, als hörte ich die Stimme meines Vaters rufen: ,Jules, laß einen alten Mann nicht mißhandeln!’“
Da rollten mir die Thränen aus beiden Augen. Das war in dieser Zeit und in dieser Stadt des unmenschlichen Hasses so menschlich schön, daß ich den Mann an’s Herz drückte und freudig rief: „Ihnen vertraue ich ganz; ich bleibe hier!“
Arm in Arm gingen wir nun zum Orleans Bahnhof, um uns für den kommenden Tag zu instruiren. Es war Nacht geworden, als wir die Haupthalle des Bahnhofs betraten. Der ungeheure, besonders durch die Höhe seiner Wölbung imponirende Raum war kümmerlich mit einem halben Dutzend Petroleumlampen erleuchtet. Wenige Bahnbeamte schlichen in den weiten Räumen umher, und von einem derselben erfuhren wir, daß „die verfluchten Hunde von Preußen“ jeden Tag nur zwei Zuge nach Orleans gestatteten, den ersten früh acht, den anderen Nachmittag vier Uhr. Ich wählte mir natürlich den letzteren für die Abreise.
Wir begaben uns nun in ein Restaurant an, Boulevard de l’Hôpital, wo wir eine Flasche Wein tranken, mein neuer Freund seinen Namen (Jules P.) und seine Wohnung (Avenue d’Italie) in mein Skizzenbuch einschrieb, für mich ein „Diner“ bestellte und sich dann für kurze Zeit verabschiedete, um mir ein Nachtquartier zu suchen.
Die Schilderung meiner ersten Belagerungs-Mahlzeit in Paris findet der Leser auf S. 205 und 206 des oft genannten Artikels. Hier habe ich wiederum nur das nachzutragen, was ich dort kurzweg behandelt oder ganz verschwiegen. Als ich das „Diner“ bis auf die „Confitures“ glücklich bewältigt und den Garçon, dem ich bereits als „Prussien“ verdächtig erschienen war, durch ein Stück meines angeblichen „pain d’Orléans“ für mich gewonnen hatte, mußte ich die Zahlung doch mit deutschen, Gelde, und zwar mit einem Thaler, wagen. Während der Garçon, schon kopfschüttelnd, mit dem silbernen Bildniß des Königs Wilhelm abging, musterte ich meine Münzen und fand noch drei österreichische Vereinsthaler. Wie ein Blitz schoß mir jetzt für den Fall der Noth ein rettender Gedanke durch den Kopf, und als wirklich der Kellner mit verlegener Miene zurückkam, galt’s, eine kecke Komödie zu spielen. Mit großer Entrüstung warf ich den mir zurückgebrachten Thaler verächtlich bei Seite, legte den österreichischen mit dem Gesicht nach oben vor ihn hin, zeigte stolz auf dasselbe und rief: „Voilà, c’est mon empereur!“ („Das ist mein Kaiser!“) und gab mich dem Manne vertraulich als „Autrichien“ zu erkennen. Ich hatte richtig gerechnet. Der Krieg von 1866 und die „Rache für Sadowa“ waren in Paris noch unvergessen: der österreichische Thaler ward zu dreieinhalb Franken angenommen.
Gleich darauf trat Jules P. wieder ein und meldete mir, daß er ein Hôtel für mich gesunden. Er erschien mir sehr niedergedrückt. Ich fragte ihn um die Ursache.
„Ich war in meiner Wohnung,“ sagte er, „um nach den Meinigen zu sehen. Mein Kind ist so schwach,und auch meine
verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1883, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_099.jpg&oldid=- (Version vom 12.2.2023)