Verschiedene: Die Gartenlaube (1881) | |
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schwarze Barett mit den weißen Straußenfedern in der Hand, verkünden sie das Nahen des kaiserlichen Zuges, welchen Alexander der Dritte, seine Gemahlin am Arme, eröffnet. Diese Trauer zeigt sich auf dem ernsten Antlitze des Kaisers. Ihm folgt der endlose Zug einheimischer und fremder Fürstlichkeiten, unter welch Letzteren die hohe Gestalt des deutschen Kronprinzen hervorragt, der neben seinem Schwager, dem künftigen Könige von England und Kaiser von Indien, einherschreitet.
Nun beginnt der Gottesdienst mit seinen so mannigfaltigen, für den Laien völlig unverständlichen religiösen Ceremonien; ihn begleitet der Gesang der kaiserlichen Hofsänger, ein Sängerchor, wie solchen wohl kein anderer Staat der Welt besitzt. Endlich ertönen die Sterbelieder, und während derselben fallen alle Anwesenden auf die Kniee. In diesem Moment tritt der Kaiser an den Sarg seines Vaters heran, kniet dort nieder und küßt hierauf die erkaltete Stirn und Hand des Verstorbenen; sämmtliche Fürstlichkeiten folgen seinem Beispiel, und sobald dies vorüber, verläßt der kaiserliche Zug die Kirche in derselben Ordnung, in welcher er eingetreten, und ihm nach schreiten die übrigen Anwesenden. Eine Zeit lang hört man noch die Rufe der Lakaien: „Wagen Seiner Excellenz des Generaladjutanten A.!“ oder des „Ministers B.!“ – doch auch diese Rufe verstummen nach und nach. Die Betreffenden haben in ihrem Wagen Platz genommen und rollen nach Hause in ihre Palais. Die Kirche liegt so stumm da, wie zwei Stunden vorher.
So feiert die hohe und höchste Gesellschaft von St. Petersburg den todten Kaiser.
Und das Volk der trauernden Hauptstadt? Wie ehrt es seinen Befreier im Tode?
Es ist Abend geworden; die Nacht ist hereingebrochen, und auf dem hohen Thurme der Festungskirche, von dem herab die lange schwarze Trauerfahne weht, verkündet der eherne Glockenmund die Mitternachtsstunde. Wir betreten die Festungskirche, nachdem wir uns durch eine lange Reihe von Polizisten und Gensd’armen durchgewunden und unsere polizeiliche Legitimationskarte wohl ein Dutzend Mal vorgezeigt haben.
Im Gotteshaus herrscht tiefe Stille. Nur die eintönige Stimme eines Priesters, welcher an einem zu Häupten des Sarges befindlichen Betpulte aus der aufgeschlagenen Bibel die Evangelien liest, tönt durch den weiten Raum, der nur durch einige in der Nähe der Leiche brennende Kerzen erhellt ist. Aus der Dämmerung der Kirche leuchten düster die weißen Marmorsarkophage über den letzten Ruhestätten der Romanows. Ueber manchem derselben brennt unter dem Heiligenbild eine kleine Oellampe, deren matter Schimmer uns die Dunkelheit nur noch mehr empfinden läßt. Allmählich gewöhnt sich aber unser Auge an das schwache Licht, und nun erblicken wir die stummen Ehrenposten, welche selbst in der Nachtzeit den Sarg umstehen. Unser Auge hängt an dem kaiserlichen Todten selbst; mit einem leichten Gazeschleier ist das erhöhte Haupt der Leiche bedeckt, und manchmal glauben wir bei dem flackernden Lichtschein die vornehmen Züge Alexander’s des Zweiten zu erkennen.
Und jetzt – dunkle Gestalten, je zwei und zwei neben einander, nahen sich langsamen Schrittes; sie schreiten von beiden Seiten auf den Sarg zu. Das ist das russische Volk, das Volk in Trauer. Um diese Stunde ist es ihm gestattet, noch einmal – zum letzten Mal! – seinen Herrscher zu schauen, und auf diesen Augenblick haben die Tausende da draußen stundenlang, trotz der bitteren Kälte, geduldig gewartet. Bauern in ihren langen, dunklen Gewändern oft ehrwürdige Gestalten mit lang herabfallendem Vollbart, einfache Handwerker und Arbeiter in ihren häufig zerrissenen Pelzen, alte Mütterchen, die sich mühsam dahinschleppen, weinende Frauen, ihre kleinen Kinder an der Hand, haben den Weg nicht gescheut; sie tragen keine Trauerkleider, aber auf ihrem Antlitz prägt sich tiefe Trauer und bitterer Schmerz aus. Lautlos treten sie an den Sarg heran – Alle knieen nieder; innige Gebete steigen von ihren Lippen zum Himmel auf. Nun richten sie sich auf, führen unter Bekreuzigungen das auf der Leiche befindliche Heiligenbild an ihre Lippen, werfen noch einen letzten Blick auf den bleichen Czar und treten dann traurig und stumm den Rückweg an, stumm und traurig, wie sie gekommen. Und so geht es Stunde für Stunde, Nacht für Nacht, bis zum heranbrechenden Morgen. – –
Das war, so lange Alexander, der Befreier, noch auf dem Paradebette lag, die Petersburger Festungskirche um die Mittagsstunde und um Mitternacht.
Petersburg, im März 1881.
Das Wappen des russischen „Kaiserretters“. Am 16. April 1865 eröffnete bekanntlich der Student Karakasow die Reihe von Attentaten auf das Leben des Kaisers Alexander des Zweiten, deren letztem dieser nunmehr, nach sechszehn Jahren, zum Opfer gefallen ist. Unter der Menge, die den lustwandelnden Kaiser angaffte, hatte sich damals auch ein eben erst vom Lande nach der Hauptstadt gekommener Mützenmachergeselle Ossip Iwanowitsch Kommissarow befunden, der vor Schreck über den dicht neben ihm abgegebenen Schuß des Meuchelmörders ohnmächtig zu Boden gesunken war. Erst einige Minuten nachher bemerkte der bekannte General Totleben den noch immer betäubt am Boden Liegenden, und es bildete sich schnell die Legende, Kommissarow habe den Arm des Meuchelmörders bei Seite geschlagen und so den Kaiser gerettet.
Als Kommissarow, der Spielball eines launenhaftesten Glückszufalls, einigermaßen zur Besinnung gekommen, stand er in einem glänzenden Saal des Winterpalais, wurde vom Kaiser umarmt, von Generalen geküßt und erfuhr, daß er nunmehr ein Edelmann sei und von nun an Kommissarow-Kostromsky, weil aus dem Gouvernement Kostroma gebürtig, heiße. Die nächsten Monate vergingen dem glücklichen Unglücklichen wie in einem wüsten Traume. Er lebte in einer prachtvollen Wohnung, und wenn er sich auch Vormittags die nothwendigste Dressur im Lesen- und Schreibenlernen gefallen lassen mußte – sobald diese Folterstunde vorüber war, wurde er von einem Dinner zum andern, von diesem Balle zu jenem geschleppt und überall überschwenglich gefeiert, beschenkt und hofirt.
Das Bewußtsein seines Unwerths und das niederdrückende Gefühl, daß alle diese Ehren ihm völlig unverdient zu Theil geworden, lagen indessen wie ein Alp auf dem Aermsten, bis endlich eine nüchterne Untersuchung den ganzen Mummenschanz aufdeckte. Darauf wurde der neue Edelmann als Officier in eine entfernte Garnison geschickt; er war dort bis zum August 1878 Stabsrittmeister und trägt noch heute eine für ihn allein geprägte goldene Medaille am Wladimir-Ordensband und eine Reihe fremdherrlicher Orden und Ehrenzeichen. – Kommissarow ist am 4. April 1839 in Molvitino als Sohn eines Sträflings geboren, der übrigens später auch begnadigt und anständig versorgt worden ist. Das ihm durch Ukas vom 21. April 1865 verliehene, hier wiedergegebene Wappen zeigt in goldenem Felde einen blaubekleideten Arm, der eine vielköpfige schwarze Hydra erwürgt, im Schildeshaupt aber eine goldene Galeere in blauem Felde. Die Helmzier besteht aus einem Engel, der eine Scheibe mit der gekrönten kaiserlichen Initiale hält, und die Wappendevise in russischer Schrift lautet zu deutsch: „Durch die Hand der Vorsehung.“ Das Wappen ist heutzutage eine heraldische Curiosität: selbst wenn Kommissarow das Mordgeschoß Karakasow’s abgewendet hätte – die scheußliche Hydra des Meuchelmords hat er nicht erstickt.
Der Herzog von Reichstadt. (Vergl. Abbildung, S. 249.) In dem jähen Sturze, welcher die beiden corsischen Kaiser auf dem französischen Throne ereilte, hat man wohl nicht mit Unrecht eine Strafe für die von ihnen verübte Vergewaltigung an der Freiheit der Völker erblickt, und auch in dem tragischen Ende der beiden einzigen Söhne dieser Machthaber lebt etwas von der Nemesis der Geschichte: sie gingen frühzeitig und ruhmlos zu Grunde, weil sie die schuldbeladene Erbschaft ihrer Väter angetreten hatten. Um sich als zukünftiger Kaiser in der Kriegskunst auszubilden, zog Prinz Louis Bonaparte mit englischen Eroberern gegen die Wilden Afrikas – in sein Verderben, und an gebrochenem Ehrgeiz, da er keine Aussicht auf den Kaiserthron hatte, welkte der Sprosse Napoleon’s des Ersten in früher Jugend dahin. Seine kurze Lebens- und Leidensgeschichte ist bekannt (vergl. „Gartenlaube“ 1859, Nr. 52), und nur als geschichtliche Curiosität führen wir unseren Lesern heute sein Portrait vor.
Man hat allgemein behauptet, der Sohn Napoleon’s sei ein schönes Kind mit blonden Haaren und blauen Augen gewesen, der seinem Großoheim, Joseph dem Zweiten, ähnlich gesehen habe; um diese augenscheinlich irrthümliche Meinung zu widerlegen, veröffentlichen wir heute das bisher wenig bekannte Portrait des Herzogs von Reichstadt. In der „Historischen Portraits-Ausstellung“, welche am Ende des vorigen Jahres in Wien stattfand, sah man auch eine interessante Stiftzeichnung Moritz Michael Daffinger’s (geboren zu Wien den 25. Januar 1790, gestorben daselbst den 22. August 1849), eines der hervorragendsten Portraitmaler Wiens, welche den nach dem Leben gezeichneten Herzog von Reichstadt darstellt und die unser heutiger Holzschnitt in verkleinertem Maßstabe wiedergiebt.
Auf den ersten Blick erkennt man in dem anmuthigen Knabenkopfe die charakteristischen Züge Napoleon Bonaparte’s, von welchem der Sohn auch den Geist, den unstillbaren Ehrgeiz, geerbt hat. Die Größe der Originalstiftzeichnung Daffinger’s beträgt 34,2 zu 23,4 Centimeter, und das Bild ist Eigenthum des Herrn J. Schwerdtner, Graveur in Wien.
Hülfe für bedrängte Deutsche in London verspricht ein Unternehmen zu gewähren, welches im Mai dieses Jahres von der „Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Ausländer“ („Society of Friends of Foreigners in Distress“) in London in’s Leben gerufen werden soll. Die genannte wohlthätige Genossenschaft rettet jährlich Tausende von nothleidenden Ausländern, unter welchen den bei weitem größten Theil (etwa 7/8) unsere Landsleute bilden, vor dem Untergange in der Fremde. Um die Gesellschaft nun in dieser menschenfreundlichen Aufgabe thatkräftig zu unterstützen, wurde von einigen hervorragenden Vertretern der Londoner deutschen Einwohnerschaft der Gedanke angeregt, während der Saison des Jahres 1881 einen großen Bazar in London zu veranstalten, dessen Ertrag der genannten Gesellschaft zu besserer Ausübung ihrer humanen Functionen zufließen soll.
Da der Erlös des Bazars zu einem großen Theile den bedrängten Deutschen in London zukommen wird, halten wir es für unsere Pflicht, die Leser unseres Blattes auf dieses dankenswerthe Unternehmen aufmerksam zu machen und ihnen die thatkräftigste Unterstützung des Werkes warm an’s Herz zu legen. Möge Keiner hier seine Gabe zurückhalten, wo es gilt, durch die Hand einer seit Jahren bewährten Gesellschaft das Elend unserer Landsleute in der Fremde zu lindern! Geschenke jeglicher Art werden für den Bazar, dessen zum Theil höchst werthvolle Waaren ohne Frage zahlreiche Käufer finden werden, dankbar angenommen, so besonders Gemälde, Kupferstiche, Sculpturen, Holzschnitzereien, Porcellan-Malereien und andere Kunstwerke, ferner Glaswaaren, Schmucksachen, Stickereien, Bücher, musikalische Instrumente etc. Alle Briefe und Sendungen bittet man an den Secretär der Society of Friends of Foreigners in Distress, Herrn W. C. Laurie, 10, Finsbury Chambers, London Wall, E. C. zu senden.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_256.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)