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Das vergessene Kind Frankreichs

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Textdaten
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Autor: M. R.
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Titel: Das vergessene Kind Frankreichs
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 760–763
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das vergessene Kind Frankreichs.

Eine der interessantesten Erscheinungen in dem Kreise der Napoleoniden, jenes von der Vorsehung wunderbar geführten Geschlechtes, ist unstreitig der Sohn Napoleons, der Herzog von Reichstadt, weniger hervorragend durch seine Thaten, als durch seine Leiden.

Nachdem sich Napoleon von seiner ersten Gemahlin, der liebenswürdigen Josephine, geschieden hatte, weil sie ihm keine Nachkommen geschenkt, warb er um die Hand der österreichischen Kaiserstochter. Marie Louise, die Enkelin der alten Habsburger, reichte aus politischen Gründen dem korsischen Emporkömmling die Hand und schenkte ihm am zwanzigsten Mai 1811 den heiß ersehnten Thronfolger, welcher in der Wiege schon „König von Rom“ genannt wurde. Durch die Geburt eines Sohnes glaubte der ehrgeizige Weltbeherrscher seine Dynastie für immer gesichert; er liebte dieses Kind seiner Hoffnungen, dem er sein ungeheures Reich, seine Pläne, seinen Namen einst zu vererben gedachte. Durch die russische Katastrophe und die darauf folgenden Niederlagen wurde Napoleon gezwungen, abzudanken, für sich und seinen Sohn auf den Thron Frankreichs zu verzichten. Die Insel Elba wurde ihm zum Verbannungsorte angewiesen; seine Gattin und sein Kind kehrten nach Oesterreich zurück, wo sie in Schönbrunn unter dem Schutze des Kaisers Franz verweilten. Durch den Vertrag von Fontainebleau war Marie Louise Herzogin von Parma geworden, ihr Sohn zu einem Prinzen degradirt.

Aber Napoleon landete bald wieder an der Küste von Frankreich, wo er mit offenen Armen empfangen wurde; er verjagte die durch die verbündeten Mächte eingesetzten und darum ihrem Volke verhaßten Bourbonen. Vergebens forderte er seine Gemahlin und seinen Sohn von Oesterreich zurück; sie wurden ihm vorenthalten. Ein Versuch, den König von Rom zu entführen und seinem Vater wiederzugeben, scheiterte an der Wachsamkeit der Wiener Polizei. Marie Louise sagte sich feierlich in einer offenen Erklärung von ihrem Gatten los und stellte sich unter den Schutz ihres Vaters und seiner Alliirten, welche Napoleon geächtet hatten. Zum zweiten Male wurde dieser bei Waterloo geschlagen, sein Heer vernichtet und er selbst nach St. Helena als Gefangener gebracht, wo er am fünften Mai 1821 an gebrochenem Herzen starb.

Unter der Obhut seines Großvaters wuchs indeß der Knabe auf, sein jugendliches Herz bewahrte die Erinnerungen einer glänzenden Vergangenheit, trotzdem seine ganze Erziehung darauf gerichtet war, ihm Vergessenheit zu lehren. Er mußte seinen Namen „Napoleon“ mit dem ihm verhaßten „Franz“ vertauschen, auf das Erbe seiner Mutter verzichten. Vaterlos und namenlos ertheilte ihm der Kaiser Franz den Titel eines Herzogs von Reichstadt.

Der Sohn Napoleon’s war ein schönes Kind mit blonden Haaren und blauen Augen, der seinem Großoheim, Joseph dem Zweiten, ähnlich sah. Das Unglück hatte ihn früh reif gemacht und seine geistigen Fähigkeiten schnell entwickelt, er beobachtete scharf und mißtraute seiner Umgebung; zeitig lernte er die Kunst, seine Gedanken zu verbergen und seine Empfindungen zu verheimlichen. Trotz der Liebe seines Großvaters fühlte er sich fremd am Wiener Hofe; er stand allein; seine Mutter hatte ihn verlassen, um sich nach Parma zu begeben, wo sie sich im Geheimen mit dem österreichischen General Neipperg vermählte.

Der bekannte Metternich leitete auf Wunsch des Kaisers Franz die Erziehung des Herzogs von Reichstadt; der gewandte Diplomat unterrichtete ihn in der Geschichte und den Staatswissenschaften. Doch am entschiedensten sprach sich in dem Sohne Napoleon’s wie in seinem Vater die Vorliebe für Mathematik und alle kriegerischen Kenntnisse aus. Als Kind schon spielte er am liebsten mit seinen Bleisoldaten, als Knabe war er stolz auf seine Uniform, als Jüngling studirte er die Werke und Biographien der berühmtesten Heerführer. Die Helden des Plutarch waren seine Lieblinge, doch vor Allen der kühne Hannibal, dessen Thaten, Schicksal und Genie ihn an seinen großen Erzeuger erinnerten.

Napoleon war der Mittelpunkt, um den sich alle seine Gedanken, seine Erinnerungen drehten, und je geflissentlicher seine Umgebung ihm die Wahrheit zu verbergen suchte, desto emsiger spürte er derselben nach, bis Kaiser Franz dem Drange seines Enkelsohns nachzugeben sich gezwungen sah.

„Ich wünsche,“ sagte derselbe zum Fürsten Metternich, „daß der Herzog das Andenken seines Vaters ehre, daß er dessen große Eigenschaften sich zum Beispiel nehme, und daß er dessen Fehler erkennen lerne, um sie zu vermeiden und vor ihrem verderblichen Einflusse sich zu wahren. Sprechen Sie zu dem Prinzen, was seinen Vater betrifft, wie Sie wünschen würden, daß man von Ihnen vor Ihrem eigenen Sohne spräche.“

Die Wahrheit machte den Herzog von Reichstadt still und in sich gekehrt; er wurde ruhiger, aber im Geheimen nährte sein hochstrebender Geist sicher Hoffnungen und Träume, die er nicht offen auszusprechen wagte. Trotz seiner natürlichen Vorsicht ließ er häufig in seiner Unterhaltung den Glauben an einen großen, geschichtlichen Beruf hindurchschimmern. Seine Seele schwankte wie ein Rohr im Winde zwischen ehrgeizigen Gelüsten und wehmüthiger Resignation, zwischen seinen neuen Pflichten und den alten Erinnerungen. Er verzehrte sich in trauriger Sehnsucht und bangen Erwartungen. Mitten in den glänzenden Hoffesten stand ein bleicher Jüngling von hohem Wuchse, meist abgesondert von der übrigen Gesellschaft, dessen schöne, melancholische Züge besonders den mitleidigen Herzen der Frauen ein tiefes Interesse abgewannen. Nur selten mischte er sich in das laute Gespräch; denn er wußte sich beobachtet, von Spähern umringt. Er kam sich unwillkürlich wie ein Gefangener vor, obgleich sein Großvater und die ganze kaiserliche Familie es nicht an Beweisen ihrer Liebe fehlen ließ. Aber weder er, noch sie konnten je vergessen, daß er der Sohn Napoleon’s, der Erbe seines Vaters war.

Er blieb ein Gegenstand ihrer Furcht und Besorgniß. Nur einen Freund hatte er gefunden, vor dem sich zuweilen seine Seele erschloß; es war dies der Oberst-Lieutenant Prokesch von Osten, welcher, eben von einer Reise aus dem Orient zurückgekehrt, die Neigung des Herzogs durch einen Aufsatz gewonnen hatte, worin er Napoleon Gerechtigkeit widerfahren ließ. Ihm vertraute der Jüngling seine Klagen, seine Hoffnungen an, von ihm forderte er Rath und Belehrung in seiner drückenden Lage. Der treue Freund mahnte ihn, dem hohen Beispiele eines Eugen von Savoyen nachzustreben und sein Talent in dem Dienste Oesterreichs zu nutzen. Der Herzog von Reichstadt antwortete ihm ausweichend, indem er die Rolle eines Eugen wenigstens indirect ablehnte. Aber eben so wenig wollte er als Abenteurer nach Frankreich zurückkehren und sich zu einem Spielballe des Liberalismus hergeben, den er wie Napoleon verabscheute.

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Die letzten Augenblicke des Herzogs von Reichstadt.

Die Julirevolution, welche den Sturz der Bourbonen herbeiführte, lenkte noch einmal die Blicke Frankreichs auf den halbvergessenen „König von Rom.“ Die Bonapartisten traten mit dem Fürsten Metternich in Unterhandlung und forderten von ihm die Erlaubniß, den Herzog von Reichstadt nach Frankreich zu führen. Aber der österreichische Staatsmann wies ihren Vorschlag zurück, indem er es für unthunlich hielt, „ohne Bonaparte Bonapartismus zu machen.“

Auch an directen Aufforderungen von Seiten der Napoleoniden, welche bei dieser Gelegenheit eine ungemeine Thätigkeit entfalteten, fehlte es nicht. Die Gräfin Napoleone Camerata, eine Nichte des Kaisers, eilte nach Wien, um den Herzog aus seinem dumpfen Brüten aufzustacheln. Die kühne, abenteuerliche junge Frau lauerte ihm heimlich auf und mahnte ihn, nicht als „österreichischer Erzherzog,“ sondern als „französischer Prinz“ zu handeln. Sie beschwor ihn „im Namen der abscheulichen Qualen, wozu die Könige Europa’s seinen Vater verdammt, im Hinblick auf jenen langen Todeskampf des Geächteten, bei dem Andenken des Sterbenden, dessen letzter Blick auf das Bild des Sohnes gerichtet war“, zu handeln, und die ihm gebotene Gelegenheit zu benutzen.

Auf all diese Herausforderungen gab der Herzog nur die eine Antwort: „Ich kann nicht als Abenteurer nach Frankreich zurückkehren! Möge die Nation mich berufen, und ich werde Mittel finden, dahin zu gelangen.“

Aber sein Herz wurde zerrissen; der unbefriedigte Ehrgeiz drohte ihn aufzureiben, eine fieberhafte Unruhe hatte sich seines Geistes bemächtigt; mehr als je empfand er das Drückende seiner unglücklichen, zweideutigen Lage. Die Kriegsrüstungen, welche in Folge der Julirevolution überall und auch in Oesterreich stattfanden, versetzten ihn in die allergrößte Aufregung, Seine Neigungen geriethen in den heftigsten Widerstreit mit seinen Gefühlen und Erinnerungen.

„Aber,“ sagte er zu Prokesch, „theilnehmen an einem Angriffskriege gegen Frankreich! Wie kann ich das? was würde man von mir denken? Ich würde die Waffen nur in dem Fall tragen dürfen, wenn Frankreich Oesterreich angriffe. Doch nein!“ fügte er, von neuem Zweifel ergriffen, mit bewegter Stimme hinzu, „das Testament meines Vaters schreibt mir die Pflicht vor, niemals in irgend einer Weise Frankreich zu bekämpfen oder ihm Schaden zu thun. Diese Vorschrift soll die Handlungen meines Lebens leiten.“

Glücklicher Weise trat der gefürchtete Fall nicht ein; Louis Philipp, der Bürgerkönig, bestieg den Thron der verjagten Bourbonen, [762] und der Herzog von Reichstadt wurde Major in österreichischen Diensten. In einer Gesellschaft bei dem englischen Gesandten in Wien traf er mit zwei Prinzen der vertriebenen Dynastie zusammen; außerdem befanden sich in demselben Salon zu gleicher Zeit der Gesandte des abgesetzten Karl X. und der Botschafter Louis Philipp’s, der Prinz Gustav Wasa, der ebenfalls verjagte Thronfolger Schwedens, und Graf Löwenhjelm, als bevollmächtigter Minister des jetzt regierenden Königs Bernadotte. Mitten unter diesen wunderbaren Zeugen des wechselnden Geschickes stand der Sohn Napoleon’s einsam und traurig, bis der ebenfalls hier verweilende Marschall Marmont, einst der Freund seines Vaters, ihn anredete. Beide fühlten sich gegenseitig zu einander hingezogen und befreundeten sich schnell, wozu sie allerdings erst die Erlaubniß von Metternich, der zugegen war und mit mißtrauischen Blicken ihre Unterredung beobachtete, einholen mußten.

Der Herzog wurde nicht müde, den Erzählungen des Marschalls von den Großthaten Napoleon’s zuzuhören; er ließ sich von ihm in den Kriegswissenschaften förmlich Unterricht ertheilen, wobei die ersten Feldzüge seines Vaters zu Grunde gelegt wurden. Als Marmont endlich Abschied nahm und ihn frug, wen er ihm in Frankreich grüßen sollte, sagte der Jüngling: „Grüßen Sie mir die Vendome-Säule mit dem Bilde meines Vaters.“

Noch einmal loderte der kriegerische Geist in ihm auf, als die Revolution in Italien ausbrach, woran sich sein naher Verwandter, Louis Napoleon, der jetzige Kaiser von Frankreich, als entschiedener Anhänger der nationalen Freiheit damals betheiligte. Auch Marie Louise, die Herzogin von Parma, sah sich genöthigt, vor dem Aufstande zu fliehen. Bei dieser Nachricht erwachte in ihrem Sohne die alte Zärtlichkeit für seine Mutter; er wollte ihr zu Hülfe eilen und bat mit Thränen seinen Großvater, für sie das Schwert ziehen zu dürfen. Kaiser Franz schlug ihm seine Bitte ab und schickte statt seiner einen österreichischen General nach Italien, der jener Revolution ein schnelles Ende machte. Der Herzog von Reichstadt konnte diese vermeintliche Zurücksetzung nicht so leicht vergessen; laut klagte er, daß ihm die erste Gelegenheit sich hervorzuthun genommen worden sei. Als der treue Prokesch ihm beschwichtigend den Rath ertheilte, sich durch fortgesetzte Studien für künftige Ereignisse vorzubereiten, rief er unmuthig aus: „Die Zeit ist zu kurz! sie schreitet zu rasch vorwärts, um sie in langen Vorbereitungen zu verlieren! War nicht der Moment des Handelns augenscheinlich für mich gekommen?“

Seine Seele war schon damals von Todesahnungen erfüllt.

Die unterdrückte Thatenlust des Jünglings ließ ihn in Zerstreuungen aller Art Vergessenheit suchen. Ohne den boshaften Gerüchten und Verleumdungen Glauben zu schenken, die in Bezug auf seinen Lebenswandel verbreitet wurden, steht doch so viel fest, daß er mancher Versuchung unterlag. Sein schwächlicher Körper widerstand nicht den Aufreibungen und schonungslosen Anstrengungen einer leidenschaftlichen Natur. Als eifriger Militair setzte er sich ohne Rücksicht allen Strapazen seines Standes aus; nur mit Mühe ließ er sich bewegen, zur Zeit als die Cholera zum ersten Male in Wien mit furchtbarer Heftigkeit auftrat, die Caserne, welche er bewohnte, zu verlassen und nach Schönbrunn überzusiedeln. Seine Brust war angegriffen, und sein Arzt, der berühmte Doctor Malfatti, machte ihm die größte Schonung zur Pflicht. Nur mit Widerstreben willigte der Herzog in die ihm auferlegte Zurückgezogenheit, die mit seinen Neigungen und dem rastlosen Thatendrang, der ihn verzehrte, in schneidendem Widerspruch stand. Es schien, nach dem Ausspruche des seelenkundigen Arztes, ein Zerstörungstrieb in der Seele des unglücklichen Jünglings zu wohnen, der ihn sich selbst zu tödten zwang; alle Vorsichtsmaßregeln scheiterten an dem Fatalismus, der ihn zu Grunde richtete.

Indeß wirkte der Aufenthalt in der freien Natur, die herrliche Landluft, die Stille und Ruhe seiner neuen Umgebung wohlthätig auf seinen leidenden Körper, wenn auch sein aufgeregter Geist nicht den gewünschten Frieden fand und sich nur zu sehr einem dumpfen Brüten über seine Lebensstellung und sein eigenthümliches Schicksal überließ, „Wie viele Ideen,“ schrieb er damals an seinen Freund Prokesch, „kreuzen sich in meinem Hirn über meine Stellung, über Geschichte, Politik und die große strategische Wissenschaft, welche Reiche zerstört und erhält! Welche verschiedene Ansichten drängen sich in meiner Seele! Aber die Offenbarung einer derartigen geistigen Verwirrung dürfte wohl von meiner Seite ein Unrecht sein; deshalb glaube ich, daß ich besser thue, all’ diese Gedanken in dem Dunkel zu lassen, aus dem sie hervorsteigen. Aber Sie werden mich nicht verdammen, wenn meine Ideen einen allzukühnen Flug nehmen, Sie werden sich nicht beeilen, sie in den Staub zu ziehen.“

In der Einsamkeit befreundete sich der Prinz auch mit der Poesie, für die sein mehr realer als ideeller Geist bisher wenig Neigung gezeigt hatte. Besonders sprach ihn der melancholisch großartige Genius Byrons an, mit dem er sich verwandt fühlte. Durch den gebildeten Doctor Malfatti lernte er die Meditationen von Lamartine kennen, die ihn mächtig ergriffen. Mit bewegter Stimme las er bei einem Besuche des Arztes diesem eine Stelle vor, welche der Dichter an ihn selbst gerichtet zu haben schien:

Courage, enfant déchu d’une race divine;
Tu portes sur ton front ta céleste origine.
Tout homme, en te voyant, reconnait dans tes yeux
Un rayon éclipsé de la splendeur des cieux.


Muth, theures Kind aus göttergleichem Blut,
Auf dessen Stirn des Himmels Ursprung ruht.
In Deinen Augen sieht, wer Dich erblickt,
Der Gottheit Strahl, vom Himmel Dir geschickt.

Trotzdem sich anscheinend der Herzog in Schönbrunn erholt hatte, so war sein Leiden keineswegs beseitigt. Neue Erkältungen, denen er sich unvorsichtig aussetzte, verschlimmerten sein Brustübel in dem Maße, daß er seiner Auflösung entgegensah. Die Aerzte verordneten den Aufenthalt in dem wärmeren Italien, wonach sich der Kranke um so mehr sehnte, da er dort seine Mutter und den treuen Prokesch wiederzusehen hoffte. Aber er mußte erst die Erlaubniß Metternichs zu einer solchen Reise einholen, da er im Grunde doch nur ein mit Mißtrauen bewachter Gefangener war. Der Minister gab ohne Anstand seine Einwilligung, aber der Herzog war schon zu schwach, um davon Gebrauch zu machen. Von Tag zu Tag nahmen seine Kräfte ab, sodaß er nach dem Brauche des österreichischen Kaiserhauses in Gegenwart des ganzen Hofes das heilige Abendmahl empfing. Niemand, selbst sein greiser Religionslehrer, der Hofprälat Wagner, wollte ihn mit der Nähe seines Todes bekannt machen. Da übernahm es die Erzherzogin Sophie, damals eine junge, schöne Frau, welche er wie eine Schwester liebte, ihn vorzubereiten. Sie selbst sah ihrer Entbindung entgegen und empfing mit ihm zugleich das Sacrament. Vor dem in dem Krankenzimmer aufgeschlagenen Altar kniete der sterbende Sohn Napoleons, bleich und abgezehrt, neben der blühenden Frau, in der Fülle ihrer Schönheit, strahlend von Glück und neuen Hoffnungen, denen sie entgegensah. Es war ein eigenthümlich ergreifendes Schauspiel, wie hier Leben und Tod, Sarg und Wiege sich zu den Füßen der Religion berührten.

Bei der ersten Nachricht von der drohenden Gefahr war Marie Louise, selbst leidend, zu ihrem Schmerzenskinde herbeigeeilt. Erschütternd war das Wiedersehen der Mutter mit ihrem Sohne, die sich Jahre lang nicht begrüßt hatten. Von welchen qualvollen Erinnerungen wurde ihre Seele bestürmt – Napoleon todt auf Helena, der König von Rom ein Sterbender!

Am 21. Juli 1832 waren seine Leiden auf das Höchste gestiegen; zum ersten Male beklagte er sich laut über seine Qualen voll Lebensüberdruß.

„Wann wird,“ fragte er dumpf, „dieses elende Dasein ein Ende nehmen?“

Gegen Abend verschlimmerte sich sein Zustand; er wollte indeß nicht leiden, daß seine Diener bei ihm wachten; auch bat er seine Mutter, die er fortwährend über die Gefahr zu täuschen suchte, sich zu entfernen und ihn allein zu lassen. Um drei Uhr des Morgens wurde der Kammerdiener durch sein lautes Stöhnen aufgeweckt.

„Ich ersticke,“ stöhnte der Unglückliche, „ich ersticke!“

Der Baron Moll, sein Begleiter, und der Kammerdiener stürzten sogleich herbei, um ihn aufzurichten.

„Meine Mutter,“ schrie er, „meine Mutter!“

Das waren seine letzten Worte.

Marie Louise und der Erzherzog Franz, von dem er gewünscht, daß er ihm die Augen einst zudrücken sollte, eilten sogleich herbei. Er konnte nicht mehr sprechen, aber seine Blicke hingen mit einem unsäglichen Ausdrucke an den Zügen der Mutter. Der herbeigerufene Geistliche zeigte mit dem Bilde des Erlösers nach oben. Der Sterbende schien ihn noch zu verstehen, und sein brechendes Auge richtete sich zum Himmel.

[763] Er schied ohne Kampf in demselben Zimmer, welches Napoleon einst als Sieger bewohnt, wo er von der Größe und der ewigen Dauer einer neu zu begründenden Dynastie geträumt; an demselben Tage, wo dem Sohne die Nachricht von dem Tode seines Vaters verkündigt wurde.

Die Leiche wurde in der Capelle der Hofburg ausgestellt; ganz Wien trauerte und drängte sich, die sterblichen Ueberreste zu sehen. Der Todte lag in seinem prächtigen Sarge, bekleidet mit der Uniform seines Regimentes, zu Häupten stand die silberne Urne, welche sein Herz enthielt, zu Füßen lag ihm der Degen, den er nie ziehen durfte. Seine Züge hatten im Tode eine wunderbare Aehnlichkeit mit dem Marmorgesichte seines Vaters angenommen.

In der Gruft „bei den Kapuzinern“, wo die Glieder der kaiserlichen Familie in ihren ehernen Särgen ruhen, wurde nach der feierlichen Einsegnung auch der Herzog von Reichstadt beigesetzt. Der Oberhofmeister, Graf Czernin, stieg mit dem Sarge hinab, den er, nachdem vor Zeugen noch einmal die Gegenwart der Leiche bekundet war, mit zwei Schlössern verschloß. Der eine Schlüssel wurde den frommen Mönchen, der andere dem Schatzkammeramte übergeben.

Dort ruht der Sohn Napoleons in der Nähe seiner Ahnen, der großen Maria Theresia und ihres Sohnes, Joseph des Zweiten.

Der Tod verklärte den unglücklichen Jüngling, dessen Leben nur eine Kette von schweren Leiden und bitteren Enttäuschungen war. Die Poesie schmückte ihn mit einer Glorie und bekränzte sein Grab mit den Immortellen der Erinnerung.

Er starb ohne Testament, da er Nichts sein eigen nannte; aber er hinterließ die Erbschaft seiner Hoffnungen. Auf seinem Schlosse zu Arenenberg erhielt der Thurgauer Bürger, der italienische Revolutionair, der politische Träumer einer „reinen und einfachen Republik“, Louis Napoleon, die Nachricht von dem Ableben des „Königs von Rom.“

Er trat die Erbschaft des „modernen Hamlet“ an; der Tod des Herzogs von Reichstadt war ein Wendepunkt in seinem Leben. Kühner und glücklicher griff er nach der Kaiserkrone, bis es ihm gelang, sie auf sein Haupt zu setzen. Auch er hofft seine Dynastie für ewige Zeiten begründet zu haben, seinem Nachfolger einst den Thron von Frankreich zu hinterlassen.

Wird sein Sohn glücklicher sein, als der Sohn und Erbe des großen Napoleon?

Die Geschichte, welche die Lehrerin der Fürsten und Völker ist, wird ihm Antwort geben.
M. N.