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Seite:Die Gartenlaube (1880) 652.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Hamburg und Deutschland.
Von Karl Braun-Wiesbaden.
1. Geschichtliche Erinnerungen.


Es ist ein Unglück, daß die großen deutschen Männer die kleine deutsche Geschichte nicht kennen. Unter letzterer verstehe ich die Geschichte der einzelnen Staaten und ihrer Regierungen, ihrer Sympathien und ihrer Antipathien, ihrer Pläne und sogar ihrer Phantastereien. Wie lehrreich diese Geschichte auch für die Gegenwart ist, im Hinblick auf die heute viel discutirte Hamburger Freihafen-Frage, will ich an einem Beispiele darthun.

Im Jahre 1820 erschien eine Schrift, betitelt: „Manuscript aus Süddeutschland, herausgegeben von George Erichson, verlegt von James Gryphi in London“. Sie erlebte in kurzer Zeit mehrere Auflagen und wurde massenhaft in dem südwestlichen Deutschland verbreitet, namentlich auch unter den Liberalen. Sie trug ein stolzes Motto aus dem Horatius:

„Was ich selbst, und mein Volk mit mir, zu begehren hat, hör’ jetzt!“
(„Quid ego et populus mecum desideret, audi!“)

Diese Schrift war eine Mystification. Allein sie war noch etwas weit Schlimmeres. Sie war eine rheinbündlerische Agitation, mit großer Schlauheit darauf berechnet, in dem damals in einer gewissen politischen Aufregung befindlichen südwestlichen Deutschland den Samen des Hasses gegen Preußen und gegen das ganze nördliche Deutschland zu säen, den Südwesten als den einzigen Träger des „reinen und unverfälschten Deutschthums“ zu glorificiren und ihn zu einem Rheinbund zusammenzuschweißen – zu einem erneuerten Rheinbund, der auf Nord- und Mitteldeutschland, auf die Nord- und Ostsee verzichtet und sich separat zu einem „alemannischen“ Binnenlande zusammenthut, unter württembergischer Führung, unter Anlehnung an Frankreich, mit einer feindseligen Spitze gegen Oesterreich und Preußen.

Wer heute das liest, der kann es kaum fassen, daß schon einige Jahre nach der Abschüttelung des Joches der Fremdherrschaft, sieben Jahre nach der glorreichen Völkerschlacht bei Leipzig, ein solches Buch möglich war, noch weniger, daß es mit Begierde gelesen und mit Eifer verbreitet wurde, daß es von Hand zu Hand ging, daß ernsthafte Leute seinen Inhalt ernsthaft discutirten, daß man sogar daran ging, seine Projecte auf dem Wege einer Staatsumwälzung zu verwirklichen, und daß die Urheber dieses Planes nicht etwa blos „Burschenschafter und sonstige Studenten“, sondern Männer in reiferen Lebensjahren und in der Stellung von Beamten und Officieren waren, welche den König Wilhelm den Ersten von Württemberg zum „König des reinen Deutschland“ machen wollten.

Ich sagte: die Schrift war eine Mystification. Denn sie war in Stuttgart gedruckt und erschienen, und nicht in London. Einen Drucker oder Verleger Namens James Gryphi gab es damals gar nicht mehr in London. Dies war nur eine literarische Reminiscenz an jene längst vergangenen Zeiten, da die Aldi in Venedig, die Gryphi in London und die Elzevier in Amsterdam als weltberühmte Drucker florirten.

Auch der Name des Verfassers war eine Mystification. Derselbe hieß nicht „George Erichson“, sondern Friedrich Georg Lindner. Geboren 1772 in Mitau, gestorben 1845 in Stuttgart, gehörte Lindner zur Classe jener unstäten politisch-literarischen Abenteurer, zu jenen zwar außerordentlichen, aber höchst ordinären fahrenden Diplomaten, welche sich in dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts in Deutschland als Söldlinge des Auslandes bemerklich machten. Am meisten Aehnlichkeit hatte er mit August von Kotzebue; nur arbeitete dieser in der Regel für Rußland, und Lindner für Frankreich; auch hatte Lindner nicht Kotzebue’s formelle dichterische Begabung. Ihre Wege pflegten sich öfters zu kreuzen.

Bis zum Jahre 1813 war Lindner im Interesse Napoleon’s thätig. In dem genannten Jahre lebte er in Weimar. Als dort die Russen einrückten, wollten sie ihn als französischen Spion aufhängen; seine Rettung verdankte er den Preußen. Er verschwand nun, um im Solde des Fürsten Metternich zu schreiben. Um 1818 kehrte er nach Weimar zurück, wo damals auch Kotzebue lebte und geheime Rapporte an den Kaiser von Rußland erstattete, in welchen er die Professoren Deutschlands als „Demagogen“ und die Hochschulen als „Herde der Revolution“ denuncirte. Der Historiker Luden, Professor in Jena, hatte damals in seiner „Nemesis“ einen Artikel publicirt, der unter Anderem auch an den öffentlichen Zuständen in Rußland eine maßvolle Kritik ausübte. Diesen Artikel machte Kotzebue sofort zum Gegenstande eines Rapportes an den Zaren.

Kotzebue’s Schreiber vertraute das ihm zur Reinschrift übergebene französisch geschrieben Original dem Dr. Lindner an, und dieser lieh es dem Professor Luden, welcher sofort darüber in der „Nemesis“ herfiel. Darob lebhafte Beschwerden Kotzebue’s bei dem Zaren, noch lebhaftere Beschwerden des Zaren bei dem Großherzog von Sachsen-Weimar – Confiscation der „Nemesis“, Confiscation der „Isis“ des Professors Oken und des „Volksfreundes“, den ein Sohn Wieland’s in Weimar herausgab, Maßregelung der Professoren, immer wüthendere Denunciationen Kotzebue’s gegen dieselben etc. – Kotzebue mußte schließlich mißliebigkeitshalber Weimar verlassen und siedelte nach Mannheim über, wo ihn der Dolch des Studenten Sand traf. Er fiel dem Haß der akademischen Jugend zum Opfer, und Lindner konnte sich rühmen, den Hecken-Krieg, aus welchem die verhängnißvolle blutige That erwachsen, zuerst angefacht zu haben.

Lindner war durch diese Hergänge in Weimar gleichfalls unmöglich geworden. Er wandte sich nach Augsburg und Stuttgart, wo er den Rest seiner Tage verbrachte als literarisch-diplomatischer Agent des Königs Wilhelm von Württemberg, von welchem er auch zu dem „Manuscript aus Süddeutschland“ inspirirt ward. Victor Aimé Huber, der mit ihm in Augsburg zusammen war, nennt ihn einen „alten fünfzigjährigen politischen Abenteurer, einen unbedingten Verehrer Napoleon’s, der stets eine zweifelhafte Rolle gespielt, bald der und bald jener Regierung gedient, bald von den Regierungen verfolgt und bald wieder zu diesem oder jenem Zweck von ihnen benutzt ward.“

Dieser Mensch also war es, der damals – vor sechszig Jahren – Deutschland verkündete, was der König (von Württemberg) und mit ihm sein „echt deutsches alemannisches Volk“ begehre. Er construirt sein Rheinbunds-Deutschland, indem er Alles, was nicht dazu paßt, über Bord wirft: vor Allem Preußen und die Hansastädte.

„Dieses unser Deutschland,“ sagt er, „muß ohne diese Territorien sich constituiren. Seine Vereinigung mit Preußen ist eine unnatürliche Verbindung. Preußen kann unter Umständen ein wünschenswerther Bundesgenosse sein; als Bundesglied ist es gefährlich. In gewöhnlichen Zeiten muß (dieses Rheinbunds-)Deutschland für die eigene Erstarkung sorgen, um nöthigenfalls (zu Gunsten Frankreichs?) ein Gewicht gegen Preußen zu bilden. Norddeutschland ist nur ein Küstenland und der Handel seine ausschließliche Bestimmung. Süddeutschland aber ist ein Binnenland, das durch seine Lage und durch die Fruchtbarkeit seines Bodens zum Ackerbau und Gewerbefleiß eingeladen wird. Ackerbau und Industrie sind seine Bestimmung. Sie müssen seinen Wohlstand sichern. Der Handel kann hier nur als Nebenzweck erscheinen. Was sollen uns die deutschen Barbaresken (Raubstaaten), die Hansastädte, deren Interesse als englische Factoreien auf Plünderung des übrigen Deutschland, auf Vernichtung seiner Industrie gerichtet sind? Deutschland darf seinen Handel nicht einer privilegirten Kaste von Kaufleuten anvertrauen, welche durch den Eigennutz an England gebunden sind. Diese Republiken, Hamburg, Bremen und Lübeck, sind in jeder Hinsicht ein Hors-d’oeuvre im deutschen Vaterlande.“

Ich habe hier nur eine der gemäßigtsten Stellen ausgezogen. Zu ihrem besseren Verständnisse muß ich noch bemerken, daß damals im Schooße des deutschen Bundestages eine (natürlich erfolglose) Verhandlung schwebte über die „Seeräubereien der Barbaresken“, das heißt der afrikanischen Raub- und Piratenstaaten Algier, Tunis und Tripolis, welche damals noch ihr Unwesen im Mittelmeer trieben und auch deutsche Schiffe mitten im Frieden wegfingen, um die Mannschaft zu Sclaven zu machen. Mit diesen Barbaresken, mit Algier, Tunis und Tripolis, setzt der Verfasser des „Manuscripts aus Süddeutschland“ die deutschen Hansastädte Hamburg, Bremen und Lübeck in eine Linie.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_652.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)