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Seite:Die Gartenlaube (1880) 087.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Vergrößerung an, so hat man nur den vierhundertsten Theil des Objects im Gesichtsfelde, muß also, um alle Theile zu übersehen, vierhundertmal das Gesichtsfeld wechseln; daß in diesem Falle viel leichter ein Stück des Objects ausgelassen wird, ist wohl selbstverständlich. Der oben erwähnte Prüfungsapparat liefert hierfür den directen Beweis. Ein geübter Mikroskopiker wird bei Anwendung einer zweihundertfünfzigfachen Vergrößerung von jenen 700 Ziffern volle 75 Procent vermissen, also überhaupt nur 210 Ziffern sehen. Natürlich wird man bei einer Fleischuntersuchung eine solche Vergrößerung nicht anwenden, aber auch die im Reglement in Aussicht genommene hundertfache Vergrößerung ist noch zu stark; über eine dreißig- bis fünfzigfache Vergrößerung sollte man nicht hinausgehen, da hier schon 331/3 Procent des Objects verloren gehen. Die Fachmikroskopiker geben freilich nicht immer zu, daß ihrem geübten Auge so viel vom Object entgeht; ich kann diesen Herren nur rathen, sich durch den Versuch mit jenem Prüfungstäfelchen zu überzeugen; sie werden alsdann zugestehen müssen, daß eine Fleischuntersuchung, welche sie mit aller Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit ausgeführt haben, weit entfernt ist, volle Sicherheit zu gewähren.

Diesem für Leben und Gesundheit so gefährlichen Uebel aber kann in sehr einfacher Weise abgeholfen werden, und zwar durch eine Vorrichtung, welche an mehreren auf der Berliner Gewerbeausstellung befindlichen Mikroskopen angebracht war: eine Schlittenvorrichtung, mittelst deren man bequem jeden Theil des Objects ohne Auslassung in das Gesichtsfeld des Mikroskops bringen kann. Den Berliner Optikerfirmen Teschner und Schmidt u. Haensch, deren Verbesserungen patentirt worden sind, ist es namentlich gelungen, dem Objecttisch eine Einrichtung zu geben, die für die Fleischschau von unberechenbarem Werthe ist. Bei beiden besteht die Einrichtung darin, daß das Object vor dem Objectiv so vorbeibewegt wird, daß alle Theile des ersteren nach der Reihe das Gesichtsfeld passiren müssen. Bei der Teschner’schen Vorrichtung wird die Verschiebung mit freier Hand bewirkt, bei der Schmidt und Haensch’schen Einrichtung durch Triebe. Durchsucht man unter Anwendung dieser Vorrichtung, die sich übrigens an jedem Mikroskop leicht anbringen läßt, das Prüfungstäfelchen so entgeht einem auch nicht eine einzige der 700 Ziffern.

Durch Einführung dieser Einrichtung bei allen zur Fleischschau bestimmten Mikroskopen würde schon sehr viel erreicht werden, aber noch nicht Alles; es muß dem Fleischbeschauer auch Zeit gegeben werden, seine Untersuchung gewissenhaft durchzuführen. Es wird häufig und am häufigsten von geübten Mikroskopikern behauptet, eine solche Fleischuntersuchung erfordere nicht mehr Zeit als 10 bis 15 Minuten, ja Viele verwenden kaum diese Zeit darauf und können es unter den gegenwärtigen Verhältnissen auch nicht. Wir können uns aber durch folgende Betrachtung überzeugen, wie unzulänglich jene Zeit ist, selbst bei Benutzung der oben beschriebenen Verbesserung. Die zu untersuchenden 25 bis 30 Schnitte nehmen etwa die Fläche von zusammen 1 Quadratzoll ein. Bei Anwendung einer fünfzigfachen Vergrößerung erhält also diese Fläche eine Ausdehnung von 2500 Quadratzoll oder 17 Quadratfuß; sie erscheint somit ungefähr so groß, wie ein Bogen der „Vossischen Zeitung“ oder der „Times“. Diese Fläche passirt nun Zeile für Zeile vor dem Objectiv vorbei; die Aufgabe des Mikroskopikers ist dabei ungefähr die eines Correctors einer solchen Zeitung: er hat zu forschen, ob sich auf der Fläche von 17 Quadratfuß irgend eine Trichine zeige, wie der Corrector auf dem Zeitungsbogen zu forschen hat, ob sich irgendwo ein Druckfehler befinde. Nun wird doch Niemand es für möglich halten, einen solchen Zeitungsbogen in 10 bis 15 Minuten genau durchzusehen, das heißt Zeile für Zeile zu lesen und Buchstaben für Buchstaben anzusehen! Ebenso wenig kann der Fleischbeschauer seine Aufgabe in 10 bis 15 Minuten lösen; es sind hierzu, wie ich vielfach erprobt habe, bei Anwendung der Schmidt und Haensch'schen Schlittenvorrichtung für den geübten Mikroskopiker mindestens 40, für den weniger geübten 50 Minuten erforderlich; die Untersuchung der 300,000 Schweine, welche jährlich in Berlin geschlachtet werden, erfordert also im Ganzen 200,000 bis 250,000 Arbeitsstunden. Rechnen wir den Arbeitstag eines Fleischbeschauers zu 7 Stunden – denn mehr dürfen wir seinen Augen wohl nicht zumuthen – und das Jahr zu 300 Arbeitstagen, so würden für Berlin etwa 100 Fleischbeschauer nöthig sein, um die Arbeit zu bewältigen. Die Zahl der Fleischbeschauer ist nun allerdings wirklich vorhanden, aber sie sind bei weitem nicht in der Lage, täglich 7 Stunden auf die Fleischschau zu verwenden, sondern vielmehr darauf angewiesen, noch einen Erwerb daneben zu betreiben, oder vielmehr die Fleischschau nur als Nebensache zu betrachten. Diesem Uebelstande muß ebenfalls abgeholfen werden. Soll die Fleischschau dem Publicum volle Garantie gewähren, so genügt es noch nicht, die Mikroskope mit den neuesten Verbesserungen zu versehen; es ist auch nöthig, daß man die Fleischbeschauer so besoldet, wie es eine sorgfältige Untersuchung erheischt, damit sie nicht genöthigt sind, sich bei der Arbeit zu überhasten. Ich würde es auch nicht für überflüssig halten, wenn die anzustellenden Beamten vorher sorgfältig auf ihre Fertigkeit im mikroskopischen Sehen geprüft würden, sei es nun mittelst des oben beschriebenen Prüfungstäfelchens oder einer andern ebenso zuverlässigen Methode. Wessen Auge nicht fähig ist, bestimmten Anforderungen zu entsprechen, der werde nicht angestellt, mag ihn auch sonst sein Beruf für dieses Amt noch so sehr geeignet erscheinen lassen; denn es handelt sich hier um Gesundheit und Leben der civilisirten Menschheit.




Blätter und Blüthen.


Spanische Staatspost-Freuden. (Mit Abbildung S. 84 und 85.) Das spanische Eisenbahnnetz hat schon eine ziemliche Kilometeranzahl aufzuweisen, und auch die Hauptstädte sind fast alle mittelst Locomotiven zu erreichen. Dennoch kann es dem Touristen, den auch andere Landespunkte, als die großen, von europäischer Cultur schon ziemlich verdorbenen Städte anzuziehen vermögen, recht oft passiren, eins der Vehikel benutzen zu müssen, die man in Spanien mit dem hochtrabenden Namen einer „Staatspost“ belegt. Hat er einmal diese Folterkammer bestiegen und seinen Sitz in der Berlina, im Inferio, in der Rotonda oder gar auf der Banquetta, wie alle diese verschiedenen Marterplätze heißen, genommen, so kann man ihm mit Dante zurufen: „Laß die Hoffnung draußen!“ – denn vom Abgange aus dem Posthofe beginnen seine Leiden, die, in riesigen Proportionen sich steigernd, zuletzt den Delinquenten entweder zu einem gelinden Wahnsinn oder, was vielleicht besser ist, zum Stumpfsinn bringen.

Nachdem das Gefährt mit der vorschriftsmäßigen, polizeilich festgestellten Anzahl von Reisenden der verschiedensten Art und Bildung besetzt worden, rollt der sich in's Unvermeidliche fügende Passagier, zwischen Koffern, Reisetaschen, Bettzeug, Hunden, geladenen Gewehren, Kisten, Säcken mit Lebensmitteln eingekeilt und zur völligen Unregsamkeit verurtheilt, mit der Post durch die engen Gassen des Städtchens hin. Der Postwagen schaukelt in entsetzlichen Pendelschwingungen von einer Häuserseite zur andern. Die Straße ist so enge, daß allerdings ein Umfallen des hochgehenden Wagens nicht zu befürchten ist. Noch über eine hohe Brücke, und des Städtchens Weichbild ist erreicht; der Wagen kommt unter den Flüchen des Mayorals (des Kutschers) zum Stehen. Jetzt erst werden die zehn oder zwölf mit rothen, blauen, gelben Troddeln und mit Schellen reich behängten Maulthiere eigentlich angeschirrt und in Ordnung gestellt, und hier auch wird der Willkür und Habgier der Kutscher und Treiber, die sich nun außerhalb der Augenweite der ohnehin mit Blindheit geschlagenen Polizei wissen, volle Freiheit gegeben – denn es giebt noch eine Menge unbekannter, nicht reglementsmäßiger Wagenplätze, welche die nun frisch aufsitzenden Reisenden zweiter und dritter Ordnung, ohne sich um die rechtmäßigen Insassen zu kümmern, mit Hast und unter heftigen Streitigkeiten einzunehmen bestrebt sind, wobei die Deckplätze die Hauptrolle spielen. Sitzend, liegend, mit den Beinen herabbaumelnd, weiß der Spanier sich in den kleinsten und unbequemsten Raum einzufügen, aus dem höchstens ein Unfall ihn wieder herauszubringen im Stande wäre.

Der Wagen hat, ohne an Raum zugenommen zu haben, sich seit der Abfahrt aus dem Posthofe um zwei Drittel seiner In- und Aufsassen vermehrt, und in riesigem Zuge setzen sich endlich die Gespanne wieder in Bewegung.

Es ist Hochsommer. Die Landstraße ist mit einer fußhohen Decke von atomartig gepulvertem gelbem Sande belegt, der trügerisch die Unebenheiten ausgleicht, welche eine spanische Poststraße bietet. Staubwolken thürmen sich unter den Hufen der Gespanne zum Himmel auf, von einer Dichte, daß die Vorderthiere nicht mehr zu erkennen sind, und der Wagen senkt sich in die Löcher der Straße bald mit dem linken, bald mit dem rechten Rade ein. Der arme Reisende klammert sich fest an seinen Sitz an, obgleich diese Procedur ihn keinesfalls vor dem Umfallen schützen kann. Die Stöße und das Schaukeln des Vehikels sind so fürchterlich, daß der Gefolterte weder für Landschaft noch äußere Umgebung irgend ein Interesse fühlt. Doch mit außerordentlicher Ausdauer galoppiren die zehn Maulthiere, den gelben Kasten hinter sich, weiter, die Gefahren instinctmäßig umgehend und vermeidend. Und was ist zum Dank hierfür

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_087.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)