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Seite:Die Gartenlaube (1877) 881.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


unternehmen, nämlich dem Kaiser den Puls fühlen. Aber, Gott sei Dank, das braucht nicht zu oft zu geschehen. Der alte Thiers pflegte zu sagen: Wenn Jemand keinen guten Magen auf die Welt zu bringen hat, so wäre es am besten, daß er sich gar nicht die Mühe nähme, auf die Welt zu kommen.

Die körperliche Constitution der Hohenzollern hat drei vortreffliche Eigenschaften, die sich von Generation zu Generation zu vererben scheinen: einen guten Magen, die Fähigkeit, zu jeder Zeit wachen oder schlafen zu können und einen langsamen Puls. Daher die leibliche und geistige Gesundheit des Geschlechts und speciell die unverwüstliche Lebenskraft des Kaisers. Aber diese würde öftere Störungen des Organismus zur Folge haben, wenn nicht Generalarzt Dr. von Lauer mit so treuem und offenem Auge über seinen Herrn wachte. Jeder gesunde Mensch kommt in Gefahr, auf seine Gesundheit hin zu sündigen. Auch der Kaiser. Ein Gefühl der Vollkraft läßt ihn oft seine Jahre vergessen, und daß ein Achtziger nicht mehr Dasjenige vollbringen kann, was für einen Dreißiger zu unternehmen keine Gefahr ist, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Das Recht solcher Mahnungen an den Kaiser steht Generalarzt Dr. von Lauer zu. Er legt sein strenges Veto ein, wenn der Kaiser eine Parade, eine Besichtigung vornehmen, einen Jagdausflug machen oder sich sonstigen Anstrengungen aussetzen will, die für sein Wohlbefinden irgend eine Gefahr nach sich ziehen könnten. Oft gehorcht ihm der Kaiser, manchmal aber läßt der Jugendmuth den greisen Herrn doch die Warnungen überhören. Nicht selten ist auch die Kaiserin mit dem Leibarzte im Complot, um den Kaiser zur Enthaltung gewisser Verordnungen zu bewegen. Glücklicher Weise ist jedoch das Befinden des Kaisers ein derartiges, daß sich meistentheils die Functionen seines Leibarztes nur auf die tägliche Erkundigung nach des hohen Herrn Befinden, auf die Inspection des Speisezettels und die Begleitung bei Reisen und Jagden beschränken. Oefters geschieht es auch, daß der Kaiser seinen Leibarzt zu Kranken abordnet, die ihm besonders werth und theuer sind und über deren Zustand er unterrichtet sein will.

Der deutschen Pfarrhäuser eines, welche unserer Nation schon so manchen hervorragenden Mann geschenkt haben, hat der Welt auch den Leibarzt des Kaisers gegeben. Gustav Adolf von Lauer wurde 1808 in Wetzlar geboren. Gebildet auf dem Gymnasium seines Geburtsortes, widmete er sich speciell dem militärärztlichen Fach als Zögling des königlich medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Instituts. Seine praktische Ausbildung empfing er im Charité-Krankenhause, war dann sechs Jahre Compagnie-Chirurg und erhielt 1836 ein Commando zum Allgemeinen Krankenhaus in Hamburg. Er wurde darauf zum Stabsarzt am medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Institut befördert, unternahm 1839 eine wissenschaftliche Reise nach Belgien und Frankreich und wurde in jenem Jahre zum Regimentsarzt des Kaiser Alexander Gardegrenadier-Regiments befördert.

Generalarzt Dr. v. Lauer hat also die Carrière der preußischen Militärärzte gemacht, wie Wiebel, der Leibarzt Friedrich Wilhelm’s des Dritten, und Dr. Böger, der Arzt Friedrich Wilhelm’s des Vierten in dessen spätern Lebensjahren. Aus einem einfachen Militärarzte, der eine reiche Kaufmannstochter aus dem alten Berliner Hause Ermler heimführte, ist der jetzige hochwichtige Generalarzt des Gardecorps und Leibarzt des Kaisers geworden. Die Stelle eines Leibarztes beim damaligen Prinzen von Preußen trat er 1844 an. Er hat vier militärische Expeditionen mitgemacht und den Kaiser zwei Mal in’s Feld begleitet; er ist geadelt worden und auf seiner Brust glänzt ein Firmament von Sternen; um seine Schultern schlingt sich ein großes Band vom badischen Schwiegersohne – aber alle diese Ehren und Auszeichnungen haben seine schlichte, gerade Natur nicht einen Augenblick in’s Schwanken bringen können. Er will lieber ein Ehrenmann als ein Hofmann heißen. Vor Hochmuth und anderen derartigen hübschen Angewöhnungen eines Emporgekommenen schützen ihn sein edles Herz, seine tiefe humanistische Bildung und die Einsicht in das Wesen, die Beschaffenheit und den Gang alles Natürlichen. Der beste Ruhm eines Arztes ist die Gesundheit seines Pflegebefohlenen – und wenn schon ein Hohenzollernkörper ein sehr dankbares Material in dieser Beziehung ist, so wird doch das Verdienst dieses Mannes dadurch nicht verkleinert, das Verdienst, durch treue und weise Sorgfalt den Kaiser und damit in gewissem Sinne das ganze deutsche Reich bei gesundem Körper zu erhalten. – –

H.

Wir entnehmen das Portrait des Generalarztes Dr. von Lauer den mit Recht viel gepriesenen „StudienköpfenAnton von Werner’s, deren erstes Heft, nach den Originalzeichnungen des Meisters photographisch aufgenommen und gedruckt, soeben aus dem Berliner photographischen Institut (Verlag von Paul Bette) hervorgegangen. Es sind zehn Köpfe berühmter Männer der Zeit, welche der Künstler der Mehrzahl nach im Winter 1870, während seines Aufenthaltes im kronprinzlichen Hauptquartier zu Versailles, nach der Natur gezeichnet. Was diesen technisch vorzüglich nachgebildeten Kreide- und Bleistiftskizzen einen besonderen Reiz verleiht, das ist die kecke Lebenswahrheit und frappante Ursprünglichkeit, mit der sie ihre gefeierten Gegenstände vor uns hinstellen. Wenn ihnen an minutiöser Ausführung und Feinheit im Einzelnen naturgemäß manches fehlt, so ersetzen sie dies reichlich durch die ihnen eigenthümliche charakteristische Auffassung und den genialen Wurf der zeichnerischen Darstellung. Anton von Werner’s Studienmappen dürften durch diese zehn Köpfe zeitgeschichtlicher Berühmtheiten schwerlich erschöpft sein, und knüpfen wir daher an das Erscheinen des ersten Heftes des interessanten Werkes die Hoffnung, es möge durch eine Reihe in gleichem Sinne ausgeführter Blätter fortgesetzt werden, was hier so glücklich begonnen wurde.




Sprachlosigkeit. „Erstarrt stand ich da; die Haare standen mir zu Berge, und das Wort blieb mir im Munde stecken,“ läßt der Dichter Vergilius den Aeneas ausrufen, als er nach seiner Flucht aus Troja statt der Gattin an seiner Seite nur ihren riesengroßen Schatten in der Ferne erblickte.

„Nun, das ist dichterischer Ausdruck, um den höchsten Grad des Erstaunens und Erschreckens zu bezeichnen,“ denkt der Skeptiker. Ja und nein. Ich habe Leute gesehen, die wie eine aus Wachs geformte Bildsäule dastanden und deren Glieder auch wie wächserne biegsam waren. Man hat bei Katzen in der That das Haar sich aufrichten sehen, und daß auch das Wort versagen kann, davon hier einige Beispiele.

Als, wie der Evangelist Lucas berichtet, der Engel Gabriel dem Priester Zacharias verkündigte, sein bis dahin kinderloses Weib Elisabeth werde trotz ihres Alters ihn noch zum Vater machen, ward er sprachlos bis an den Tag der Beschneidung seines Sohnes, Johannis des Täufers, neun Monate und acht Tage. Ferner: Eine Dame in Osnabrück, die sich nach Bielefeld verheirathete, verlor in dem Augenblicke die Sprache, als sie, von dem Hochzeitsmahle aufbrechend, mit ihrem jungen Ehemanne in den Reisewagen stieg. Zacharias und die junge Frau bekamen die Sprache wieder; der Erstere, als er den Namen seines Sohnes auf ein Täfelchen schrieb; die Letztere, als sie nach langer Sprachlosigkeit bei einem Spaziergange um die Wälle ihrer Vaterstadt den Thurm der Katharinenkirche in Flammen erblickte und plötzlich den Ruf „Feuer!“ ausstieß.

Der alte griechische Geschichtsschreiber Herodot, der nunmehr zweitausendzweihunderteinundachtzig Jahre todt ist, erzählt folgende bis vor kurzem für unglaublich gehaltene Geschichte: Als Crösus bei der Belagerung von Sardes in Gefahr gerieth, von einem Perser erschossen zu werden, rief der Sohn des Crösus, der bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte, dem Perser, der auf seinen Vater zielte, zu: „Mensch, hüte dich, den Crösus zu tödten!“ und blieb im Besitz seiner Sprache bis an’s Ende seines Lebens. Wunderbar bleiben diese Thatsachen immerhin, aber ihre Unglaublichkeit haben sie seit den neueren Forschungen der Wissenschaft verloren.

Bekanntlich besteht das Gehirn des Menschen und der Thiere aus zwei symmetrischen Hälften. Die linke Hälfte des Gehirns regelt und bewirkt die Bewegungen der rechten Körperhälfte, und die rechte Gehirnhälfte die Bewegungen der linken Körperhälfte. Wird die linke Gehirnhälfte zerstört, so tritt eine Lähmung der rechter Körperhälfte ein: die rechtsseitigen Glieder gehorchen dem Willen nicht mehr.

Geschieht die Zerstörung der linken Gehirnhälfte etwa durch einen Schlagfluß, wobei Blut aus den Adern tritt und die Gehirnsubstanz zertrümmert, so tritt unter Umständen auch eine Lähmung des Articulationsmechanismus der Sprachorgane ein: die Fähigkeit, zu sprechen, geht verloren. Dieser Umstand ereignet sich, wenn der Bluterguß in einen bestimmten kleinen Theil der linken Gehirnhälfte, die sogenannte Insel oder deren nächste Umgebung, erfolgt. Man könnte also diesen Theil des linken Gehirns als den Sitz des Sprachvermögens bezeichnen, und es ist in hohem Grade bemerkenswerth, daß den Affen, deren Gehirn im Uebrigen eine so eminente Aehnlichkeit mit dem des Menschen zeigt, dieser Theil des Gehirns, die Insel, fehlt. Mit einem Gehirnschlagflusse ist gewöhnlich der Verlust des Bewußtseins verbunden, aber die Besinnung kann wiederkehren; der Betroffene kann durch Zeichen zu erkennen geben, daß er Alles um sich her erkenne und verstehe; er kann auch seine Wünsche durch Zeichen oder Schrift kund thun, aber sprechen kann er nicht. Zuweilen kann er auch nicht mehr richtig schreiben, selbst wenn die Bewegungsfähigkeit der Hand vollkommen wiederhergestellt ist, oder er schreibt verkehrte, oft sinnlose Worte. So vermochte Jemand seinen Namen: Müller nicht zu schreiben; er schrieb: „Rema“ unter ein Document, und doch konnte der Gerichtsarzt mit gutem Gewissen beglaubigen, daß der Kranke im Besitze seiner geistigen Fähigkeiten sei, den Inhalt der Urkunde wohl verstehe und mit dem „Rema“ seinen Namen ausdrücken wolle, aber ihn nicht zu schreiben verstehe. Ein Kaufmann, der bei seiner Sprachlosigkeit noch Intelligenz genug behalten hatte, um sehr gut Schach zu spielen, zuckte, als er aufgefordert wurde „Baum“ zu schreiben, die Achseln, ergriff aber einen Bleiftift und zeichnete sofort das Bild eines Baumes gut auf Papier, obwohl er das Wort weder zu schreiben noch zu sprechen vermochte.

Sehr merkwürdig ist ferner folgendes Vorkommniß: Wenn man einem an Sprachlosigkeit Erkrankten drei Gegenstände vorhält, etwa einen Schlüssel, eine Bleifeder, eine Uhr, so vermag er keinen davon mit dem richtigen Namen zu benennen, aber er giebt den Zweck derselben an. Er sagt: „Damit kann man schließen; damit schreibt man; das zeigt, wie weit es ist“; es fehlen ihm die Substantive. Legt man nun die drei Gegenstände nebeneinander und fordert ihn auf, die Bleifeder zu fassen, so ergreift er das richtige Ding.

Es war gesagt: Wenn Jemand einen Schlagfluß in seiner linken Hirnhälfte erleidet, bei der die Insel oder ihre Umgebung getroffen ist, so wird er sprachlos. Ueberraschend muß es erscheinen, daß die Zerstörung dieser Theile in der rechten Hirnhälfte keine Sprachlosigkeit zur Folge hat. Nur wenn der Mensch linkshändig ist und Bewegungen, welche die meisten Menschen mit der rechten ausführen, wie Kegelschieben, Werfen, Fechten, mit der linken Hand vornimmt – wenn ein linkshändiger Mensch von einer Lähmung der rechten Gehirnhälfte betroffen wird, bei welcher die Insel nebst Umgebung zerstört wird, tritt auch Sprachlosigkeit ein. Beide aber, sowohl der Rechts- wie der Linkshändige können ihre Sprache vollständig wiedererhalten. Wie geht das zu? Man nimmt an: In beiden Gehirnhälften sind alle Theile gleich entwickelt. Allein wie zu feineren Bewegungen entweder die rechte oder die linke Hand ausgebildet wird, so werden auch die Organe des Sprachorganismus im Gehirne entweder auf der linken oder auf der rechten Seite vorzugsweise in Anspruch genommen. Für gewöhnlich ist nur das linksseitige centrale Sprachorgan thätig. Wie aber Jemand, der seine rechte Hand eingebüßt hat, mit der linken schreiben lernt, so lernt auch der von dem Verluste der linken Insel Betroffene, die bis dahin brachliegende rechte Insel zum Gebrauche heranzuziehen.

Wie wir gesehen haben, entsteht und vergeht die Sprachlosigkeit außer durch Zerstörung von Hirntheilen auch durch große psychische Eindrücke,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 881. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_881.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)