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Seite:Die Gartenlaube (1877) 472.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
XVIII.


Die deutsche Literatur, verehrte Freundin, kann uns bisweilen an einen Maskenball mit allen möglichen Volkscostümen erinnern; wenigstens führt die deutsche Muse so viele Schubladen- und Verkleidungsstücke auf, wie kaum die Muse einer andern Nation. Die stehende Maske auf diesem Maskenballe ist aber der gelehrte Erläuterer, der literar-historische Magister, der zu jeder Maskentoilette die erforderlichen Noten giebt und nachweist, warum sie besonders schön und kleidsam ist und unter welchen Länge- und Breitegraden man solche Schuhe, Strümpfe und Hüte zu tragen oder sich mit solchen Buchstaben und Bildern zu tätowiren pflegt.

Der deutsche Geschmack hat einen sehr weiten Horizont, verehrte Freundin. Das spricht für unsere Vielseitigkeit und Empfänglichkeit, doch es wäre kein Glück, wenn unsere Poesie sich ganz in ein „Mädchen aus der Fremde“ verwandeln sollte, welches uns Blumen und Früchte aus allen Zonen darreicht, nur diejenigen nicht, welche auf der heimathlichen Erde gewachsen sind.

Wir begnügen uns indeß nicht damit, das Fremde genießbar zu finden und alle exotischen Leckereien zu kosten, wenn sie uns von einem Uebersetzer auf einem geschmackvollen Präsentirteller angeboten werden, nein, unsere Dichter beginnen gleich nachzudichten; sie schlagen alle Tonarten an, die irgendwo auf dem Erdenrund erklungen sind. Schon im classischen Weimar sammelte man die Stimmen der Völker; die Elegien der Lappländer und Hottentotten, das lyrische Kriegsgeheul der Rothhäute: Alles das hat ja für eine wissenschaftliche Auffassung Interesse: unsere Literatur hat ebenso gut ihr ethnographisches Museum, wie die eigentliche Völkerkunde, und es fehlt darin nicht an allerlei Merkwürdigkeiten, an Spießen, Keulen, Fellen und Federschürzen.

Doch so übertrieben auch die Vorliebe für das Fremdartige, so häufig die Verwechselung des dichterisch Schönen und des lehrhaft Interessirenden sein mag: den Anregungen fremder Kunstpoesie, sobald sie sich über die Naturlaute der allerursprünglichsten Empfindungen erheben, verdankt unsere Dichtung viel Anziehendes und Schönes, unsere Sprache eine seltene Durchbildung und Kräftigung.

Sie lieben Rückert, verehrte Freundin, und das spricht dafür, daß Sie bei den Dichtern mehr suchen, als ein paar duftige Liederblüthen, die sich in ein Album legen lassen. Rückert ist kein bequemer Dichter; er hat etwas Schroffes und Herbes, und in seine Spruchpoesie tritt man wie in einen Insectenschwarm, der uns umschwirrt und anfangs betäubt. Doch welche Fülle an Geist und Lebensweisheit in diesen unzähligen Sprüchen, welche duftige Pracht in diesen östlichen Rosen, welcher Reichthum von Phantasie in den Erzählungen aus dem Osten, in den arabischen, persischen, indischen Nachdichtungen! Da ist es schon lohnend, oft durch eine harte Schale zum süßen Kerne hindurch zu dringen.

Rückert hat manchen Nachahmer, die Lyrik des Ostens zahlreiche Vertreter gefunden. Einer der glücklichsten ist Bodenstedt, und auch Sie besitzen die Perl- oder Diamantausgabe seines „Mirza-Schaffy“. Man hat diesen Weisen lange in Tiflis gesucht; jetzt ist man darüber unterrichtet, daß er in Meiningen, Hannover oder irgend einer abendländischen Stadt zu suchen, daß Mirza-Schaffy nur die Maske und Bodenstedt der Dichter ist; der tatarische Sprachlehrer am Kyros verwandelt sich unter der Hand in den Hoftheaterintendanten an der Werra; wer weiß, ob Mirza-Schaffy einen echten Jünger seiner Lebensweisheit hinter den Coulissen von Meiningen aufsuchen würde! Jetzt freilich ist dieser Jünger wieder den Brettern untreu geworden, die sich seitdem in eine wandernde Musterbühne verwandelt haben.

Mirza-Schaffy war nicht herb und schroff wie Rückert; das war ein flotter und bequemer Poet; die Verse bewegten sich im harmonischen Reigen, leichtgeflügelt, anmuthig scherzend; die hohen Eisgipfel des Kaukasus blickten hernieder in den fröhlichen Tanz, und seine Wasserfälle rauschten darein; die Schönen lockten; es lockte der Wein und die Lust des Lebens. Das war kein tiefsinniger Brahmane, der den Rosenkranz der Spruchweisheit durch die Finger gleiten ließ; das war ein Weltkind in tatarischem Costüme, das auf dem westöstlichen Divan saß, den Pokal in der Hand und im Herzen die Freude an der Schönheit.

Vor etwa drei Jahren hat Bodenstedt Gedichte „Aus dem Nachlasse Mirza-Schaffy’s“ veröffentlicht. Der Dichter ist etwas älter geworden und hat den herausfordernden Uebermuth verloren. Zwar wird noch die Liebe gefeiert, aber, es sind mehr Weisheitsregeln, wie man lieben soll, als die unbefangene Hingebung des fröhlichen Genusses. Dazwischen reihen sich allerlei Erzählungen aus dem Orient, die an das Rückert’sche Vorbild erinnern. Auch an gefällig eingekleideten Sprüchen fehlt es nicht, und selbst mit der neuesten Philosophie nimmt der Weise von Tiflis den Kampf auf. Doch ist das Colorit des Orients etwas verwaschen; einige Liebesgedichte gemahnen so abendländisch, als ginge die Heldin derselben am Isar oder an der Werra spazieren, und einzelne Lieder sind von so zarter und schwärmerischer Naturempfindung beseelt, wie diejenigen [[[Emanuel Geibel|Geibel]]’s. Der Dichter fühlt sich ungenirter und nimmt öfter die Maske ab; doch werden Sie, verehrte Freundin, auch einzelne schöne Gedichte finden, wie z. B. das Lied auf die Cypresse mit den ansprechenden Schlußversen:

Fern von dem lauten Weltgewühl
Den stillen Friedhof schmückt sie;
In ihrem Schatten ruht sich’s kühl;
Den Blick vom Staub entrückt sie.

So ragt sie wie ein grüner Thurm
Der Hoffnung in die Ferne;
Tief unter ihr nagt der Grabeswurm;
Hoch über ihr leuchten die Sterne.

Soeben hat Bodenstedt wieder eine Nachdichtung östlicher Poesie veröffentlicht; der Held derselben ist der „Sänger von Schiras“, Hafis, den ja auch Friedrich Daumer, wenngleich in der freiesten Weise, für einen westöstlichen Liederstrauß benutzt und dem der greise Goethe schon so warmes Lob gespendet hat. Hier ist von keiner Maskerade die Rede; Bodenstedt führt den persischen Dichter in unsere Literatur ein, indem er ihm in treuer und bescheidener Weise das Geleite giebt, ohne sich selbst vorzudrängen oder gar an seine Stelle zu treten.

Und sollen wir den alten Perser willkommen heißen? Wird er es auch bei den Frauen sein? Ein Schwärmer ist er nicht; ein gewisses zartes Rosenroth der Empfindung fehlt ihm gänzlich; dagegen hat er eine seltene Begeisterung für das Weintrinken; er ist ein eifriger Zecher, und das ist gerade keine Eigenschaft, welche die Frauen bei den Männern und bei den Dichtern lieben. Sie dürfen aber nicht vergessen, verehrte Freundin, daß es mit dem Weintrinken in Persien seine eigene Bewandtniß hat. Hafis kann sich nicht so gemüthlich in die Schenke setzen, wie Ihr Nachbar, der Landrath, der sich die Serviette vorbindet und zu einem Gabelfrühstück die halbe Weinkarte heruntertrinkt. Das Weintrinken ist durch den Koran verboten, und Hafis war ein arger Ketzer, wenn er diesen Genuß im vertraulich stillen Kreise pflegte oder fortwährend dazu aufforderte. Die Sultane theilten freilich seine Neigungen und drückten ein Auge zu. Bei uns ist es, wie Bodenstedt sagt, kein Act der Tapferkeit, heimlich oder öffentlich Wein zu trinken, wenn man Freude daran hat und Geld, ihn zu bezahlen. Bei Hafis war dies ganz etwas anderes; in seinem Preise des Weins lag zugleich ein Protest gegen die Heuchelei der blauen Kutten, die in ihren himmelfarbenen Gewändern sich von jedem irdischen Genuß abwandten. Hafis besingt daher den Wein nicht so harmlos, wie etwa Roquette in „Waldmeisters Brautfahrt“; er ist ein starker und trotziger Rebell gegen des Landes Glauben und Sitte, wenn er die Vorzüge des Weines und selbst des Rausches in überschwänglichem Ton verherrlicht:

Bring’ Wein herbei, der Königsmacht verleiht
Und, was im Herzen trübe, klärt und weiht!
Einst war ich Herrscher auf des Herzens Thron:
Doch jetzt, durch Schuld getrübt, spricht es mir Hohn.

Mir spiegelt, wenn die Hand den Becher hält,
In seinem Glanz sich alles in der Welt. –
Der Körper kann nicht leben unbeseelt,
Und so das Herz nicht, wenn der Wein ihm fehlt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_472.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)