Verschiedene: Die Gartenlaube (1877) | |
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Instinct oder Verstand und bewußter Wille? So lange es ein menschliches Denken giebt, ist diese Frage in Bezug auf das Sein und Bewegen, die Fähigkeiten und Lebensäußerungen der Thiere ein Gegenstand eingehender Erörterungen gewesen. Aber erst von der modernen Naturwissenschaft sind diese Untersuchungen durch scharf geführte Beweise, durch umfassende Beobachtungen und Forschungen zu Gunsten des Verstandes gegen die hergebrachte Annahme eines Instincts entschieden worden, so weit man unter Instinct die zweckmäßig, aber ohne Bewußtsein und Ueberlegung wirkende Verrichtung einer Maschine versteht. Es kann nichts Fesselnderes geben, als den Gründen nachzugehen, welche zu dieser in geistiger und sittlicher Hinsicht überaus wichtigen Entscheidung geführt haben. Auf den ersten Blick freilich werden dem Neuling die dabei ihm offenbarten Thatsachen aus dem seelischen Leben der Thiere so fabelhaft und unglaublich erscheinen, daß er Erzeugnisse dichterischer Phantasie vor sich zu haben glaubt. Fehlt es ihm aber nicht an einiger Ausdauer und Empfänglichkeit, so muß er unter Anderm allmählich gewahr werden, wie die betreffenden Enthüllungen nicht dem Gehirne eines Einzelnen entsprungen, sondern in meistens – so weit es die Hauptpunkte betrifft – übereinstimmender Weise von den verschiedensten, zum Theil geistig hervorragendsten Menschen, an den verschiedensten Orten und zu den verschiedensten Zeiten auf dem Wege angestrengtesten Studiums gemacht worden sind. Schon dieser Umstand muß in Bezug auf das Wesentliche alle aufsteigenden Zweifel beseitigen oder doch bedeutend einschränken und uns überzeugen, daß wir es in jenen Mittheilungen und den daraus gezogenen Schlüssen durchaus nur mit Wirklichkeiten zu thun haben.
Zu einem nach allgemein anerkannten Grundsätzen geordneten System der Thierseelenkunde hat es freilich die Wissenschaft noch nicht gebracht. Aber man kann wohl sagen, es ist durch eine kaum übersehbare Menge tiefgreifender Einzelforschungen der Schlüssel gefunden zu den Räthseln der Thierwelt. Nicht allein in Bezug auf die großen und höher organisirten Thiere hat unermüdeter Scharfblick die Verwandtschaft mit dem Denken und Wollen des menschlichen Wesens bis zur Unleugbarkeit nachgewiesen, sondern immer tiefer ist er selbst in die geheimnißvolle Wunderwelt jener kleinen und vielfach so mißachteten Geschöpfe eingedrungen, die schwirrend und summend die Luft um uns her erfüllen, die mit ihrem kribbelnden Leben den Erdboden übersäen und die wir auf jedem Spaziergange achtlos unter unsere Füße treten. Schon von altersher ist freilich das Leben der Insecten einer der anziehendsten Gegenstände sinniger Naturbetrachtung gewesen, und zu allen Zeiten war es eine mit Leidenschaft betriebene Liebhaberei Einzelner, sich in diese Welt kleinsten Seins zu versenken. Um aber sichere Schlüsse aus diesen Beobachtungen herzuleiten, dazu fehlte jene Methode kritischer Sichtung und vergleichender Prüfung des hier und dort gesammelten Materials, welche jetzt in der Wissenschaft zur Regel geworden und neuerdings z. B. von Dr. Ludwig Büchner in einer hochinteressanten Darlegung angewendet wurde, die vor Kurzem unter dem Titel „Aus dem Geistesleben der Thiere, oder Staaten und Thaten im Kleinen“ in Berlin (bei A. Hofmann) erschienen ist. Unter Bezugnahme auf die große Frage des Instincts und zu besserer Entscheidung derselben schildert uns Büchner hier nicht etwa das ganze ungeheuere Reich der Insectenwelt, sondern nur eine beträchtliche Reihe bestimmter Züge aus dem Leben der Ameisen und Bienen, der Wespen, Spinnen und Käfer verschiedener Art. Fast jeder einzelne dieser Einblicke fesselt und spannt unsere Aufmerksamkeit in ungewöhnlichem Grade, aber insgesammt und in ihrer übersichtlichen Nebeneinanderstellung machen sie einen viel mächtigeren Eindruck, der weit über das Interesse einer bloßen Unterhaltung hinausgeht. Wer das gelesen hat, der zweifelt sicher nicht mehr, daß ein heller und warmer Strahl des die Welt erfüllenden Vernunftlichtes auch in jene winzigen Geschöpfchen gefallen und in ihnen zu einer hohen Stufe bewußten Lebens gekommen ist. Sehen wir unter der Masse der geführten Beweise zunächst nur einen der einfacheren ein.
An der poetischen Thierfabel als Unterrichtsmittel haben früher manche nüchterne und verstandesmäßige Pädagogen Anstoß genommen, weil diese Dichtung die Thiere menschlich sprechen und handeln lasse und damit dem Kinde etwas Unwahres lehre. Es scheint aber, als ob jetzt Aesop, Lafontaine und Gellert auch nach dieser Seite hin als gute Realisten zu Ehren kommen sollten. Denn für die ernste Forschung moderner Naturwissenschaft besteht gar kein Zweifel mehr, daß die Thiere in den Schranken ihres Gesichts- und Lebenskreises ein dem menschlichen sehr ähnliches Denken und Handeln entwickeln und in der That auch durch eine besondere Sprache sich gegenseitig verständigen und unterhalten. Wenn dies in Bezug auf die Säugethiere und Vögel bei allen Kennern bereits als eine ausgemachte Sache gilt, so sind doch in dieser Hinsicht noch viel wunderbarere Entdeckungen an den kleinen zu Gesellschaften sich organisirenden Insecten gemacht worden. Gewiß, es ist vollständig erwiesen, daß diese Thierchen durch gewisse Töne, daß aber viele derselben namentlich durch die an ihren Köpfen befindlichen, auch noch anderen Zwecken dienenden Fühler mit einander sprechen können und sprechen. „Zwei Ameisen,“ sagt Büchner, „die mit einander reden und sich unterhalten, sieht man mit den Köpfen einander gegenüberstehen und sich mit ihren überaus empfindlichen und beweglichen Fühlern auf das Lebhafteste gegenseitig bearbeiten, an die Köpfe schlagen etc. Daß sie sich auf diese Weise gegenseitig sehr detaillirte Mittheilungen und zwar über ganz bestimmte Dinge zu machen im Stande sind, wird durch zahllose Beispiele erwiesen.“ „Ich habe öfter,“ so erzählt der Engländer Jesse, „eine kleine grüne Raupe in die Nähe eines Ameisenhaufens gebracht. Sie wird sofort von einer Ameise ergriffen, welche sich zu einer andern Ameise begiebt, nachdem sie vergebliche Anstrengungen gemacht, die Raupe in das Nest hinabzuziehen. Man sieht nun, wie beide Thierchen mit Hülfe ihrer Fühler eine Unterhaltung zusammen pflegen, nach deren Beendigung sie sich gemeinsam zu der Raupe begeben, um dieselbe mit vereinten Kräften in das Nest hinabzuziehen. Oefter auch habe ich beobachtet, wie sich zwei Ameisen auf dem Wege von und zu ihrem Neste einander begegneten. Sie bleiben stehen, berühren sich gegenseitig mit ihren Fühlern und scheinen eine Unterhaltung zu führen, welche sich, wie ich aus guten Gründen vermuthe, auf den besten Platz zum Fouragiren bezieht.“ So erzählt auch Hague in einem Briefe an Darwin, daß er durch einen Fingerdruck eines Tages eine Anzahl von Ameisen getödtet habe, welche aus einem Loche in der Wand täglich zu seinen auf dem Kaminsimse stehenden Blumen kamen und sich durch Wegbürsten nicht stören ließen. Die Tödtung hatte zur Folge, daß Neuherbeikommende sofort wieder umkehrten und ihre von der Gefahr noch nicht unterrichteten Cameraden ebenfalls zur Umkehr zu veranlassen suchten. Die sich einander Begegnenden hatten eine kurze Conversation, der übrigens nicht ein sofortiges Umkehren folgte, indem die begegnende Ameise sich zuerst eigene Ueberzeugung zu verschaffen suchte.
Ganz in derselben Weise halten auch die kriegführenden Ameisen Berathung, bevor sie ihre interessanten Feldzüge beginnen, und theilen auch, wie das vielmals beobachtet wurde, den gefaßten Beschluß einander mit. Ist eine Ameise hungrig, so theilt sie auch ihr Nahrungsbedürfniß durch Fühlerberührungen ihren Cameraden mit. Auch die hülflosen Larven werden so gemahnt, das Maul zum Empfange der Nahrung aufzuthun, und auch die gegenseitige Neigung oder Abneigung giebt sich durch eine solche Geberdensprache kund. Im Uebrigen ist der Beobachter Landois (Verfasser eines 1874 erschienenen Werkes über die Thierstimmen) durch seine Untersuchungen zu der Meinung gekommen, daß die Ameisen neben ihrer Geberdensprache auch eine Laut- und Tonsprache besitzen müßten, wenn dieselbe auch für das menschliche Ohr nicht hörbar ist. Er warf zum Beispiel eine große lebende Kreuzspinne mitten auf einen sehr belebten Ameisenhaufen. In einem Nu war der ganze Schwarm alarmirt und zwar mit einer Schnelligkeit, die Landois nur als eine Folge hörbarer Mittheilung erklären kann. Eine große Anzahl Ameisen stürzte sich auf die Spinne und es entspann sich ein äußerst heftiger Kampf, der mit der Ueberwältigung derselben endigte. Auch gelang es diesem Forscher, an dem Hintertheile der Ameisen, namentlich einer bestimmten Art, einen Ton-Apparat oder ein sogenanntes
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_262.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)